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Donald Trump und Kamala Harris beim Fernsehduell am 10. September 2024.

© picture alliance/newscom

Sieben Forschende zu den US-Wahlen: Es steht viel auf dem Spiel

Am 5. November finden die US-Präsidentschaftswahlen statt. Sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität blicken auf wichtige Faktoren für die Entscheidung, wer ins Weiße Haus einzieht.

Von Carsten Wette

Stand:

Kamala Harris oder Donald Trump – wer gewinnt die Präsidentschaftswahl am 5. November in den Vereinigten Staaten von Amerika? Wer zieht als 47. Staatsoberhaupt ins Weiße Haus ein? In beiden Fällen würde ein Wahlsieg etwas nie Dagewesenes bedeuten: Setzte sich die Demokratin Kamala Harris, Vizepräsidentin unter Amtsinhaber Joe Biden, als dessen Nachfolgerin durch, so wäre sie die erste Frau in diesem Amt.

Gewänne der Republikaner Donald Trump, bereits 2017 bis 2021 Präsident der Vereinigten Staaten und damit Vorgänger von Joe Biden, dann würde er der erste US-Staatschef, gegen den zwei Amtsenthebungsverfahren angestrengt worden sind. Er sah sich nach seiner Amtszeit zudem mit mehreren Strafprozessen konfrontiert. Trump, Jahrgang 1946, wäre bei einem Sieg nur fünf Monate jünger als Joe Biden bei dessen Amtsantritt.

Welche Rolle spielen die bisherigen zwei wichtigsten Fernsehduelle dieser Wahl, wie wirken sie nach? Zumindest das erste Duell hat dem Verlauf der Wahl eine entscheidende Wende gegeben: Ursprünglich hatten sich für die Wahl dieselben Kandidaten der Demokraten und der Republikaner durchgesetzt wie für die Entscheidung vor vier Jahren: Joe Biden und Donald Trump.

Doch beim Aufeinandertreffen der beiden Ende Juni auf CNN schnitt der Amtsinhaber dermaßen schlecht ab, dass die Demokratische Partei ihn zum Rückzug von der Kandidatur bewegte und Kamala Harris, Jahrgang 1964, ins Rennen schickte. Steigen damit die Chancen der Demokratischen Partei auf einen Wahlsieg? Nach dem Fernsehduell vom 10. September gehen Beobachterinnen und Beobachter jedenfalls von einem engen Rennen aus. Zu einer weiteren Fernsehdebatte soll es nach einer Entscheidung der Republikaner für ihren Kandidaten Trump nicht kommen.

Wahlberechtigt in den 50 US-Bundesstaaten sind rund 219 Millionen Menschen. Welche Faktoren könnten den Ausschlag geben? Welche Folgen hätte ein Sieg von Kamala Harris, welche ein Sieg von Donald Trump?

Lesen Sie, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität Berlin auf die Entscheidung in 32 Tagen blicken; sie benennen mögliche Einflussfaktoren und zeigen auf, was auf dem Spiel steht, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, der US-Innenpolitik und der Wirtschaft.


„Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zerrt an den Fundamenten der Nation“

Die USA, einst Beispiel für Freiheit und Demokratie, stehen heute am Abgrund ihrer eigenen Realität. Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 hat eine tiefe Wunde bei einer Nation aufgerissen, die sich in ihrem Selbstverständnis sucht. Die politisch zerklüftete Landschaft, in der Einheit längst einer tiefen Spaltung gewichen ist, blieb auch unter Präsident Joe Biden eine Baustelle. Seine Versuche, den gesellschaftlichen Riss zu kitten, schienen wie der Versuch, Wasser mit bloßen Händen zu halten.

Biden, der als Heiler ins Weiße Haus gewählt wurde, sah sich mit einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert. Seine Initiativen, von massiven Konjunkturpaketen bis hin zum Infrastrukturgesetz, waren ambitioniert, doch sie prallten auf eine von Ungleichheit und Rassismus durchzogene Gesellschaft. Die sozialen und wirtschaftlichen Schatten, die den Aufstieg des Populismus unter Präsident Donald Trump befeuerten, haben sich nicht verzogen – ganz im Gegenteil.

Während die Bürger zunehmend Vertrauen in die Politik verlieren, stellt sich die Frage nach dem american dream. Soziale Mobilität, einst Stolz und Motor der US-Gesellschaft, hat ihren Schwung verloren. Heute ist der Traum des Aufstiegsversprechens dem existenziellen Überleben gewichen. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zerrt an den Fundamenten einer Nation, die einst die Mittelschicht als Herzstück ihrer Identität pries.

Die USA taumeln am Scheideweg. Zwischen dem schwindenden Glanz ihrer Ideale und der Realität der Gegenwart steht eine Demokratie, die um ihre Zukunft kämpft. Ob sie diesen Kampf gewinnen kann, bleibt offen.


„Die USA sind mitten in einer Debatte über ihre Rolle in der Welt“

Außenpolitik ist für Wählerinnen und Wähler in den USA selten ein entscheidendes Thema. Doch bei dieser Wahl spielt sie eine größere Rolle als je zuvor angesichts der aktuellen Kriege in Europa und im Nahen Osten sowie dem geopolitischen Wettbewerb mit China. Die Vereinigten Staaten befinden sich mitten in einer Debatte über ihre Rolle in der Welt, die vor allem durch das Gefühl des eigenen relativen Machtverlusts im In- und Ausland angeheizt wird.

Kandidatin und Kandidat für die Präsidentschaft haben hier auffallend unterschiedliche Anschauungen: Donald Trump hat seine Absicht betont, die globalen Verpflichtungen der USA zu reduzieren und mit Verbündeten und Gegnern gleichermaßen hart umzugehen. Für Kamala Harris sind starke Bündnisse und multilaterale Zusammenarbeit nach wie vor von zen­traler Bedeutung für die amerikanische Führung.

Aber es gibt auch neue Überschneidungen mit Blick auf die Zukunft der US-Außenpolitik. Trotz erheblicher politischer Differenzen – beispielsweise bezüglich des Engagements der USA in der NATO – setzen sich beide Parteien neuerdings mit der Frage auseinander, wie sie ein besseres Gleichgewicht zwischen innenpolitischen und internationalen Prioritäten herstellen können.

Über die Parteien hinweg wächst der Konsens, dass die globale Führungsrolle der USA und die dafür erforderlichen Ressourcen nicht auf Kosten der amerikanischen Mittelschicht gehen dürfen, dass die USA sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten militärisch und wirtschaftlich überhoben haben und dass die Globalisierung zum Schutz der amerikanischen Interessen eingeschränkt werden muss.

Das bedeutet, dass verschiedene Formen des Rückzugs die Außenpolitik der nächsten Regierung bestimmen werden, unabhängig davon, wer das Weiße Haus gewinnt. Die Verbündeten der USA werden diese Zurückhaltung zu spüren bekommen und ihre eigenen außenpolitischen Ziele neu ausrichten müssen.


„Emotionen sind bei US-Wahlen seit mehr als 200 Jahren immer zentral“

„Haben Sie Wahlangst?”. „12 Wege, um Wahlstress zu managen.” „Wahlangst nimmt zu.” So titelten kürzlich US-amerikanische Publikationen. In einer Umfrage der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft geben 73 Prozent an, dass die Wahlen sie „ängstlich“ stimmen. 86 Prozent aller jungen LGBTQ+-Personen sagen, ihre Lebensqualität sei dadurch beeinträchtigt. Psychologinnen empfehlen Betroffenen, mehr Sport zu treiben und den Medienkonsum zu minimieren –vor allem vor der Nachtruhe.

„Election-xiety” ist die Angst vor dem Verlauf und Ausgang von Wahlen. Da viele Menschen Parteien und deren Kandidatin oder Kandidaten immer intensiver mit einem bestimmten way of life verbinden, sagt die Psychologin Erica Komisar, hätten diese Menschen Verlustängste: dass es in den USA nach dem 5. November keinen Platz mehr für sie gebe.

Die Strategien von Kamala Harris und Donald Trump entsprechen dieser Diagnose: Harris setzt auf unklare Positionen wie Hoffnung, Inklusion, bloß kein Stress. Trump dagegen auf Untergangsszenarien, Vergeltung und Erlösung. Harris will eine „Präsidentin für alle Amerikanerinnen und Amerikaner” sein, Trump der Messias, der das Volk vor der Katastrophe rettet.

Emotionen sind bei US-Wahlen seit mehr als 200 Jahren immer zentral und werden es auch am 5. November sein. Auffällig ist indes, dass Themen wie Arbeitslosigkeit, Migration, Abtreibung, Außenpolitik inzwischen zunehmend rhetorische Übungen sind, die die Kandidatinnen nutzen, um die eigentliche Botschaft zu vermitteln: „Ich bin die Richtige für dich”. Am Ende wird alles davon abhängen, wie einige tausend Wähler in sieben Swing-Staaten sich am Tag der Wahl gerade so fühlen. Genau das macht die Meinungsumfragen so fragwürdig, die Prognosen so ungewiss und die Angst vor dem Ausgang so groß.


„Schwarze Identität bleibt bis heute zu einem erheblichen Teil fremdbestimmt“

Als sich Kamala Harris im Juli 2024 innerhalb kürzester Zeit als Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei durchsetzte, stellte ihr Kontrahent, Donald Trump, in einer seiner ersten Reden sogleich ihre Identität in Frage. Er behauptete, sie hätte sich aus Karrieregründen erst im Laufe der Zeit dafür entschieden, schwarz zu sein. Diese rassistische dogwhistle kommt freilich nicht überraschend, aber sie zeigt vor allem die enorme Geschichtsvergessenheit Trumps und seiner Anhänger – denn die eigene Hautfarbe war für Afroamerikanerinnen und -amerikaner in den USA so gut wie nie eine Wahl.

Schon 1662 widmete sich eines der frühesten Gesetze zu Sklaverei in Virginia den Kindern von versklavten Frauen und weißen Männern. Aus Angst um den eigenen Besitz wurden diese per Gesetz automatisch zu Sklaven erklärt, die keinerlei Bürgerrechte einfordern konnten. Sie konnten weder dem Status als Versklavte noch dem Label als schwarz gelesene Menschen entkommen. Dies setzte sich auch nach dem Ende der Sklaverei fort, als pseudo-wissenschaftlich schon ein Tropfen vermeintlich „schwarzen Bluts“ genügte, um Schwarzsein zu definieren.

Ende des 19. Jahrhunderts begannen Afroamerikanerinnen und -amerikaner zwar auch, die eigene Kultur und Intellektualität mit Stolz zu vertreten. Und doch bleibt schwarze Identität bis heute zu einem erheblichen Teil unfreiwillig und fremdbestimmt: Barack Obama – sein Vater stammte aus Kenia, seine weiße Mutter aus Kansas – diente als erster schwarzer Präsident der USA.


„Rhetorik kann Wahlen entscheiden“

Neben dem Wechsel in der Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei von Joe Biden zu Kamala Harris in der heißen Phase vor der Wahl wird uns ein weiterer Wandel in Erinnerung bleiben: nämlich der seitens der Demokratischen Partei hin zu einer neuen Rhetorik, die sich am besten an einem kleinen, aber feinen Wort festmachen lässt: weird.

Tim Walz, Kamala Harris’ running mate, der den freundlichen Dad aus der sozialen und geografischen weißen Mitte der amerikanischen Gesellschaft verkörpert, bezeichnete insbesondere J. D. Vance, sein republikanisches Pendant, immer wieder mit diesem Attribut: „weird!” – also sonderbar, komisch. Tatsächlich funktioniert diese Zuschreibung, denn wir assoziieren sie nun mit Trump und Vance und bei allem, was sie seitdem tun und sagen, wird gewissermaßen ein „weirdness-check“ seitens der Wählerinnen und Wähler vollzogen.

Wahlkampfrhetorik kann insbesondere in hochmedialisierten Gesellschaften politische Wahlen entscheiden. Donald Trump selbst hat das 2016 gezeigt, als er es schaffte, seine politischen Ziele auch rhetorisch zu verdichten: make america great again fungiert als Akronym MAGA sinn- und identitätsstiftend für einen Großteil seiner Wählerschaft und ist längst zu einer Marke avanciert. Rhetorik und Slogans dieser Art sind wie ein politischer Refrain mit Ohrwurmcharakter.

Die Tatsache, dass Tim Walz so etwas wie den Ober-Normalo der Vereinigten Staaten verkörpert und wie ein Sportcoach mit der Öffentlichkeit spricht, macht die Zuschreibung von „sonderbar“ umso wirksamer, weil das kleine Wort „weird“ authentisch erscheint und an den Republikanern kleben bleibt. Seit Barack Obamas Slogan „Yes, we can!“ haben es die Demokraten nicht mehr geschafft, etwas derart Wirksames zu formulieren. Und es passt ins Bild, dass im Jahr 2024 und nach den Präsidentschaftswahlen von 2016 und 2020 (jeweils mit der Beteiligung von Donald Trump) keine Selbstbeschreibung die größte rhetorische Strahlkraft entfaltet, sondern eine Beschreibung der Gegenseite.


„Zuwanderungspolitik kann politische Mehrheiten nachhaltig verändern“

Auch diesmal ist mit einem spannenden Wahlkampf und einem engen Ausgang zu rechnen. Das wäre anders, wenn die Wahl durch den popular vote entschieden würde, den die Demokraten seit 2008 durchgängig gewonnen haben. Ein wichtiger Grund hierfür ist das Abstimmungsverhalten von Zuwanderern, definiert als im Ausland geborene Personen – aktuell sind das 15,6 Prozent der Bevölkerung – sowie deren Nachkommen. Obwohl es teilweise starke Unterschiede zwischen und innerhalb der einzelnen Gruppen gibt und sich seit Trump zunehmend Zuwanderer den Republikanern zuwenden, stimmt nach wie vor die überwiegende Mehrheit der Zuwanderer für die Demokraten.

Ein Grund dafür, dass die Republikaner voraussichtlich auch in dieser Wahl den popular vote nicht gewinnen werden, ist der Immigration Act aus dem Jahr 1965, der die Zuwanderung in die USA substanziell und nachhaltig verändert hat – sowohl bezüglich der Größenordnung als auch der Zusammensetzung der Herkunftsländer.

Eine kürzlich mit Kollegen veröffentlichte Studie zeigt, dass Letzteres klar beabsichtigt war und den Mehrheitswünschen der Bevölkerung entsprach. Im Gegensatz dazu war der starke Anstieg der Zuwanderung nach 1965, insbesondere aus Mittel- und Südamerika und vor allem durch Familienzusammenführungen, ursprünglich weder beabsichtigt noch von der Mehrheit der Bevölkerung gewünscht. Das Beispiel zeigt, wie Zuwanderungspolitik politische Mehrheiten nachhaltig und in teilweise unerwarteter Weise verändern kann.


„Trump und Harris betrachten China als Konkurrenz“

Die China-Politik von Donald Trump und Kamala Harris weist Unterschiede in Ansatz und Taktik auf, zeigt jedoch auch Gemeinsamkeiten. Beide betrachten China als Konkurrenten, und es wird erwartet, dass sie ähnliche politische Instrumente wie Zölle, Exportkontrollen und Subventionen nutzen werden. Während das Kandidatenteam Trump-Vance auf Konfrontation und Abschottung im Sinne des decoupling setzen wird, erwartet man vom Harris-Walz-Team eine Balance zwischen Wettbewerb und Kooperation im Sinne des de­risking. Harris hat wenig Erfahrung mit China, Vize-Kandidat Walz war als Lehrer in Guangdong tätig und traf wiederholt Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten.

Trump und Harris betonen beide, dass sie in Bezug auf China handlungsfähig bleiben wollen und notfalls härtere Maßnahmen ergreifen werden. Es bleibt somit absehbar, dass die USA, unabhängig vom Regierungsteam, weiterhin einen harten Kurs gegenüber China verfolgen werden. Aus chinesischer Sicht ist Donald Trump unberechenbar, jedoch war er in der Vergangenheit offen für deals, und man ist in Peking nicht ganz abgeneigt, wenn Trump die eta­blierten globalen Strukturen kritisiert. Von Kamala Harris erwartet China mehr Kontinuität, aber auch eine protektionistische Zollpolitik sowie Kritik an den Menschenrechtsverletzungen.

Was eine etwaige Eskala­tion im Taiwan-Konflikt angeht: Unter Harris würden die USA die Insel im Falle eines chinesischen Angriffs sicherlich verteidigen, während Trump sich bisher nicht festgelegt hat, aber von Taiwan fordert, für die Verteidigungsdienste der USA zu zahlen.

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