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Jeder Schnitt mus sitzen: Die Berliner Glasgraveurin Inge Gerner in ihrer Werkstatt in der Zitadelle Spandau.

© Alexander Hausdorf

Europäische Tage des Kunsthandwerks: So arbeitet eine Glasgraveurin

Inge Gerner erschafft in ihrer Werkstatt aus normalen Trinkgefäßen kleine zerbrechliche Kunstwerke. Beim Besuch in der Zitadelle Spandau führt sie vor, worauf es dabei ankommt.

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Inge Gerners wichtigstes Werkzeug sieht in etwa aus wie eine Drehbank: Am Ende eines langen Metallstabes steckt ein kleines Rädchen, das mit gleichmäßigem Sirren um die eigene Achse rotiert. Doch es ist kein Holz, das hier bearbeitet wird, sondern Glas: Mit ruhiger Hand führt Gerner ein Trinkglas an das Rädchen und schneidet nach und nach ein geometrisches Trauben-Muster in das empfindliche Gefäß.

„Glas ist schon ein sehr spannend Material, es ist einfach sehr konsequent“, sagt die 62-jährige Glasgraveurin, deren Werkstatt in der Zitadelle Spandau liegt. Jeder Schnitt muss sitzen, vor allem bei sehr hochwertigen Gläsern, die mehrere hundert Euro wert sein können: „Man kann nichts korrigieren – was weg ist, ist weg.“ Was auf den ersten Blick stressig klingt, ist für Gerner das komplette Gegenteil: „Gravieren ist für mich die totale Entspannung.“

Dutzende Rädchen liegen neben ihr bereit

Gerners Ellbogen ruhen auf zwei Filzkissen, zwei Gummimanschetten um ihre Handgelenke fangen die Spritzer des Wassers auf, das zur Kühlung und zur Bindung des Glasstaubs auf das Gravur-Rädchen topft. Dutzende Rädchen unterschiedlichster Größe und Breite liegen neben ihr auf dem Tisch.

Sie sind wie Pinsel, mit denen Gerner feine Linien oder gleichmäßige Flächen auf ihre gläsernen Leinwände auftragen kann. Allerdings bestehen die Pinsel nicht aus Haaren, sondern aus Edelkorund, Siliciumcarbid oder Kork – letzteres ist zum Polieren gedacht.

Zwei Gummimanschetten am Handgelenk fangen die Wasserspritzer auf.

© Erik Wenk

So entstehen Schnitt für Schnitt Blumenmuster, Federn, Schriftzüge, Tiermotive oder Gesichter auf den Gläsern. „Für eine Feder brauche ich etwa fünf Minuten, für ein Porträt mehrere Wochen“, sagt Gerner.

Ein beliebter Anlass: Hochzeiten. In einem Regal stehen verschiedene Sekt- oder Weingläser, auf denen die Namen von Ehepaaren eingraviert sind, nebst dem Hochzeitsdatum und zwei Ringen. Auch Vereine, Hotels oder Unternehmen lassen sich gerne einen Satz Trinkgläser mit ihrem jeweiligen Logo oder Schriftzug versehen.

Zu Gerner Repertoire gehören aber auch gravierte Christbaum-Kugeln aus Glas, Glasschilder sowie Glastüren, -tische, oder – trennwände mit Reliefs. So große Werkstücke werden natürlich nicht mit dem Drehrädchen bearbeitet, sondern mit dem Sandstrahler.

Die Gravur-Rädchen sind für Inge Gerner das, was Pinsel für den Maler sind.

© Erik Wenk

Gerner war Anfang der 80er eher durch Zufall zur Glasgravur gekommen: „Ich wollte etwas Kreatives mit den Händen machen – Hauptsache nicht im Büro sitzen und Akten wälzen“, sagt sie. Bis ihre Hand die nötige Ruhe bekommen hatte, dauerte es eine Weile: „Irgendwann ist es soweit, dass Kopf und Hand wissen, wo das Rad hinscheidet.“

Wenn sie Glas graviert, arbeitet Gerner mit allen Sinnen: Augen, Ohren, Tastsinn. „Es kommt auch darauf an, wie sich das Gravur-Rad anhört“, sagt sie. „Deshalb höre ich beim Arbeiten nie Musik.“

Als Inge Gerner mit ihrem Beruf anfing, war der Markt für gravierte Gläser noch wesentlich größer als heute. Damals seien Gläser massenweise graviert worden, im Bayrischen Wald habe es ganze Gemeinden gegeben, die von der Glasveredelung lebten. Beliebte Motive waren unter anderem Weintrauben für Weingläser und Kornähren für Biergläser. Doch die Überproduktion tat dem Markt nicht gut: „Es gab immer mehr und immer schlechteres Glas – irgendwann hatte man es über“, sagt sie.

1996 kam sie nach Berlin und bezog ihre Werkstatt in der Zitadelle Spandau: „Es ist ein charmanter Ort“, sagt Gerner. Ihre Werkstatt ist immer offen – nicht nur am Tag des Kunsthandwerks. Wer mag, kann Gerner immer bei der Arbeit über die Schulter schauen und Fragen stellen.

Die Kundschaft, die sich heute für graviertes Glas interessiert, hat sich im Vergleich zu den 80er Jahren verändert: Während früher gravierte Gläser in großer Stückzahl bestellt wurden, sind es heute eher persönliche Einzelstücke, die Kundinnen und Kunden für sich oder andere fertigen lassen: „Es muss nicht mehr eine ganze Ausstattung sein, aber dafür vielleicht ein Lieblingsglas, das einen morgens beim Frühstück in die Gänge bringt“, sagt Gerner.

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