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Eine schreiende Frau wird aus verschiedenen Perspektiven gezeigt.

© Getty Images/sdominick

Vor allem junge Frauen holen auf: Immer mehr Erwachsene erhalten ADHS-Diagnose

Deutlich häufiger als zuvor wird bei Erwachsenen inzwischen ADHS diagnostizier. Experten erklären, warum das keine schlechte Nachricht ist und welche Nachteile die große mediale Aufmerksamkeit für das Thema mit sich bringt.

Stand:

Die Zahl der Neudiagnosen der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADS) bei Erwachsenen ist in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland deutlich gestiegen. Dies zeigt eine Auswertung bundesweiter Abrechnungsdaten vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, die in der Nacht zum 12. Dezember im Fachjournal „Deutsches Ärzteblatt International“ veröffentlicht worden ist.

Wie das Science Media Center (SMC) zusammenfasst, gehen Experten davon aus, dass weltweit derzeit rund 2,5 Prozent der 19- bis 45-jährigen Erwachsenen ADHS haben. In Deutschland hatten im Jahr 2014 jedoch lediglich 0,4 Prozent der Erwachsenen eine ADHS-Diagnose, wie aus Daten der AOK hervorgeht. Schon damals wurden zunehmend häufigere ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen festgestellt. Nach wie vor gehen Forschende laut SMC aber von einer Unterdiagnostik aus.

Es ist anzunehmen, dass es sich bei vielen hier diagnostizierten Fällen um verspätete Diagnosen handelt.

Swantje Matthies, Leiterin der Arbeitsgruppe ADHS und Borderline-Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter am Universitätsklinikums Freiburg

Die nun publizierten Daten zeigen die Entwicklung der neu diagnostizierten ADHS-Fälle in den Jahren 2015 bis 2024 bei Erwachsenen. Grundlage waren bundesweite vertragsärztliche und psychotherapeutische Abrechnungsdaten der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen aus den Jahren 2013 bis 2024.

Mehr Diagnosen vor allem seit 2021

Demnach stieg die Häufigkeit der ADHS-Neudiagnosen von 8,6 auf 25,7 von 10.000 gesetzlich krankenversicherten Erwachsenen. Ein Anstieg der Neudiagnosen war in allen Altersgruppen zu beobachten. Jüngere Erwachsene erhielten dabei mehr ADHS-Neudiagnosen als ältere. Männer wurden häufiger als Frauen diagnostiziert, allerdings verringerte sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern mit den Jahren: Während 2015 noch 11,1 von 10.000 erwachsenen Männern und 6,7 von 10.000 erwachsenen Frauen eine neue Diagnose bekamen, waren es 2024 26,9 von 10.000 erwachsenen Männern gegenüber 24,8 von 10.000 erwachsenen Frauen.

Insbesondere bei den jüngeren Frauen war der Anstieg der Neudiagnosen stark ausgeprägt. Im Jahr 2024 bestand in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen kaum mehr ein Unterschied zwischen den Geschlechtern. Generell hat die Zahl der Neudiagnosen besonders in den Jahren seit 2021 zugenommen.

2,5
Prozent der Erwachsenen weltweit leiden laut Schätzungen unter ADHS.

Die Autorinnen und Autoren der Studie erklären den Anstieg mit einer stärkeren gesellschaftlichen Sensibilisierung für ADHS, der Einführung eines neuen Diagnose-Codes im Jahr 2019 sowie den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit.

Oliver Hennig, Ärztlicher Leiter der Zentralambulanz, Oberarzt der Psychiatrischen Ambulanz sowie Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe ADHS im Erwachsenenalter am Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim, wertet die Zahlen als erfreuliche Entwicklung. Der Anstieg der Neudiagnosen zeige vor allem, dass die lange bestehende Unterdiagnostik aufgeholt werde. Bei einer weltweiten ADHS-Häufigkeit von rund 2,5 Prozent im Erwachsenenalter würde es – auf Basis der aktuellen Neudiagnosen, der Bevölkerungszahl und des -zuwachses – etwa zwölf Jahre dauern, bis alle ADHS-Fälle in Deutschland identifiziert wären. Für die kommenden Jahre rechnet er deshalb mit einem weiteren Anstieg.

Mädchen mit ADHS fallen weniger auf

Dass es sich bei den meisten Neudiagnosen nicht um neue Erkrankungsfälle handeln dürfte, darauf verweist auch Swantje Matthies, Leiterin der Arbeitsgruppe ADHS und Borderline-Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter und Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg. Sie sagt: „Es ist anzunehmen, dass es sich bei vielen hier diagnostizierten Fällen um verspätete Diagnosen handelt. Das bedeutet: Die Betroffenen waren bereits im Kindesalter betroffen, wurden aber nicht diagnostiziert.“

Aufgrund zunehmender Sensibilität für das Thema ADHS kämen sie nun im Erwachsenenalter zur Diagnostik. Dies sei insbesondere für Mädchen und Frauen plausibel. „Bei ihnen ist bekannt, dass sie unter anderem aufgrund der etwas anderen Symptompräsentation im Kindesalter weniger auffallen“, sagt Matthies. 

Viele Fachärzte bieten noch keine strukturierte ADHS-Diagnostik oder medikamentöse Therapie an.

Oliver Hennig, Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe ADHS im Erwachsenenalter am Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim

Die zunehmende Sensibilität dürfte auch das Ergebnis einer verstärkten medialen Aufmerksamkeit für das Thema sein. Die hat jedoch auch ihre Schattenseiten. „Dabei besteht auch die Gefahr, dass das Konzept ‚verwässert‘ wird“, sagt Swantje Matthies. „Es ist möglich, dass Menschen sich mit ADHS-typischen Eigenschaften, Merkmalen und Erfahrungsberichten identifizieren, obgleich sie nicht die diagnostischen Kriterien erfüllen.“ Die Diagnose von ADHS erfordere eine ausführliche Anamnese und Beurteilung durch Fachleute.

Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, erklärt die Unterschiede zwischen Frauen und Männern mit einer höheren Verbreitung von ADHS bei Jungen im Kindesalter. Mädchen würden eher übersehen. Dies habe mit Stereotypen der ADHS zu tun, bei denen die Hyperaktivität und die Impulsivität im Vordergrund stehen. Mädchen hätten generell eher aufmerksamkeitsbezogene Symptome, die weniger auffallen.

Registerdaten aus Schweden zeigten, dass bei Frauen die ADHS-Diagnose drei bis vier Jahre später gestellt wird und sie mehr Gesundheitsleistungen und Medikamente in Anspruch nehmen. Weil die spätere Diagnostik unter anderem Fehldiagnosen nach sich ziehe, sei es gut, dass Frauen bei der Diagnosehäufigkeit aufholten.

Die Hälfte der Betroffenen erhält keine Therapie

Doch die Studie weise auch Limitationen auf, so Marcel Romanos, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Würzburg. Es sei zum Beispiel aus anderen Untersuchungen bekannt, dass Familien die Diagnosedaten bei den Krankenkassen oftmals nicht kennen oder korrekt wiedergeben können. Rund die Hälfte der Betroffenen erhalte außerdem keine spezifische Therapie. Zudem könne die Studie keine Auskunft darüber geben, ob bei den Betroffenen im Kindes- und Jugendalter bereits eine ADHS-Diagnose gestellt worden sei, weil nur die letzten zwei Jahre vor Beginn der Datenerhebung in 2013 berücksichtigt worden seien.

Romanos warnt zudem vor einem verzerrten Bild. Durch die erhebliche Steigerung der Inzidenz könne der Eindruck entstehen, dass es zu einer explosiven, erhöhten Inanspruchnahme der Versorgungsstrukturen in der Bevölkerung gekommen ist. „Das eigentliche Problem ist jedoch weiterhin die Unterdiagnostizierung und insbesondere die mangelnden Behandlungsmöglichkeiten“, sagt er.

Bislang werde Diagnostik oft nur in Spezialsprechstunden angeboten, sagt Oliver Hennig vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim. Diese seien jedoch meist überlastet. „Viele Fachärzte bieten noch keine strukturierte ADHS-Diagnostik oder medikamentöse Therapie an“, so Hennig. Trotzdem nehme die Zahl der fürs Erwachsenenalter zugelassenen Medikamente ebenso wie das ADHS-Wissen bei Fachärzten, psychologischen Psychotherapeuten, Hausärzten und Klinikärzten merklich zu.

„Gesellschaftlich wäre es wünschenswert, Arbeits- und Lernumfelder so zu gestalten, dass Menschen mit unterschiedlichen Aufmerksamkeitsprofilen und Organisationsfähigkeiten ihre Stärken besser einbringen können und weniger Beeinträchtigung durch ihre Defizite erleben“, so Hennig. (mit SMC)

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