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Kinder stark machen. Frühzeitig vorzulesen und über das Gelesene zu sprechen führt zu höherer Lesekompetenz. Diese wiederum ist die Grundlage, um komplexe Inhalte erfassen und an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben zu können. Dass die Lese- und Schreibfähigkeit in den vergangenen Jahren bei Kindern gesunken und in den Bundesländern unterschiedlich stark ausgeprägt ist, zeigt der IQB-Bildungstrend 2021.

© Foto: : Annika Middeldorf

Warum es wichtig ist, Kindern vorzulesen: Lesen und lesen lassen

Irene Pieper erforscht, wie Kinder das Lesen erlernen – und welche Rolle das Vorlesen für die kindliche Entwicklung spielt.

Von Pepe Egger

„Nachts, im Mondschein, lag auf einem Blatt ein kleines Ei.“ Viele von Ihnen werden diese Passage aus dem Buch von Eric Carle kennen: Weil Sie selbst Ihren Kindern die Geschichte von der kleinen, sehr hungrigen Raupe vorgelesen haben. Oder weil sie Ihnen vorgelesen wurde: „Und als an einem schönen Sonntagmorgen die Sonne aufging, hell und warm, da schlüpfte aus dem Ei – knack – eine kleine hungrige Raupe. Sie machte sich auf den Weg, um Futter zu suchen.“

Die Sache ist allerdings die: Die Raupe macht sich immer seltener auf den Weg. Weil immer weniger Eltern ihren Kindern vorlesen. Zugleich nimmt die Lese- und Schreibkompetenz von Grundschulkindern ab, wie der IQB-Bildungstrend 2021 bei Viertklässlern zeigt. Liegt das an Corona und den Schulschließungen oder am Vormarsch von iPads und Handys in den Kinderzimmern? Am steigenden Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund oder am Lehrkräftemangel? Vor allem aber: Was hilft dagegen, dass unsere Kinder beim Lesen und Schreiben zurückfallen?

Irene Pieper ist Professorin für Literaturdidaktik und Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Sie erforscht, wie Kinder lesen lernen, was ihnen dabei hilft und welche Ausbildung angehende Lehrkräfte in die Lage versetzt, die Lese- und Schreibkompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler am besten trainieren zu können. Im Mai wurde Irene Pieper für ihre Forschung mit dem Erhard-Friedrich-Preis für Deutschdidaktik ausgezeichnet, die Jury betonte dabei vor allem ihren „wegweisenden Beitrag“ zur Theoriebildung in der Deutschdidaktik und ihre empirische Forschung zur „Lesesozialisation“.

Zwischen 18 und 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler erreichen den Mindeststandard nicht

Irene Pieper ist also eine denkbar günstige Gesprächspartnerin, wenn es um die Frage geht: Warum haben die Viertklässler im IQB-Bildungstrend 2021, dessen Langfassung am 17. Oktober vorgestellt wurde, so schlecht abgeschnitten? Die Daten zeigen, dass zwischen 18 und 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Lesen, Zuhören und Schreiben den Mindeststandard nicht erreichen; nicht einmal 60 Prozent kommen beim Lesen auf den Regelstandard, beim Schreiben sind es sogar nur 44 Prozent.

Schlüsselt man das Bild genauer auf, dann zeigt sich, dass die Stadtstaaten Berlin und Bremen, aber auch die Flächenländer Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen deutlich unter dem nationalen Durchschnitt liegen, während Schulkinder in Bayern und Sachsen besser als der Durchschnitt abschneiden. Für ganz Deutschland aber gilt das bittere Fazit: Gegenüber dem vorherigen Bildungstrend-Bericht von 2016 sanken die Kompetenzen im Lesen und Schreiben deutlich: Rund 10 Prozent weniger Viertklässler als noch vor fünf Jahren erreichten 2021 den Regelstandard, rund 6 Prozent weniger schafften es auf den Mindeststandard.

Wenn Eltern ihren Kindern oder größere Geschwister ihren kleinen Brüdern und Schwestern vorlesen, dann eröffnet ihnen das schon ganz früh die Möglichkeit, an einer reichhaltigen Sprache zu partizipieren.

Irene Pieper, Professorin für Literaturdidaktik und Neuere deutsche Literatur

Fragt man Irene Pieper nach den Gründen, sagt sie: „Es gibt nicht die eine Ursache, die diese Entwicklung erklärt, sondern mehrere verschiedene Faktoren, die zusammenwirken.“ Pieper verwahrt sich auch dagegen, dass man an den schwindenden Lese- und Schreibfähigkeiten quasi den Untergang des Abendlands ablesen könne. Stattdessen sagt sie: „Die Daten zeigen einfach noch einmal sehr deutlich die Herausforderungen, vor denen wir stehen.“

Irene Pieper ist Professorin für Literaturdidaktik und Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin.
Irene Pieper ist Professorin für Literaturdidaktik und Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin.

© Foto: Lorenz Brandtner

Wenn es mehrere Gründe sind, dann sticht einer besonders ins Auge: die Corona-Pandemie. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung für den IQB-Bildungstrend – zwischen April und August 2021 – hatten die getesteten Viertklässler mehrere Monate Schulschließung, Notbetrieb, Distanzunterricht und dann ihren ersten Pandemiewinter hinter sich, viele von ihnen waren erst seit wenigen Wochen wieder im regulären Schulbetrieb.

Man könnte also schlussfolgern: Der Bildungstrend illustriert, wie wichtig Schule tatsächlich ist. Denn das zeigt sich als Nächstes: Wichtige Faktoren für das Erreichen von Lernzielen beim Lesen und Schreiben sind der sozioökonomische Status der Eltern und der Umstand, ob die Kinder in Deutschland geboren sind oder zu Hause Deutsch sprechen. „Der Migrationshintergrund hat für sich genommen für die Lesekompetenz wenig zu bedeuten. Was aber ins Gewicht fällt, ist eine Verbindung von Migrationshintergrund mit sozioökonomischem Status. Wenn also Kinder aus ärmeren Familien zugleich einen Migrationshintergrund haben, dann schneiden sie oft deutlich schlechter ab als andere.“

Berlin und Bremen haben noch nicht angemessen auf größere Schülerzahlen reagiert

Dass die Zahl von Viertklässlern zugenommen hat, für die beides zutrifft, liegt vor allem an der seit 2015 gestiegenen Ankunft von Geflüchteten. Also kein Wunder, dass die Schulen überfordert sind? Eigentlich nicht, sagt Irene Pieper. Beziehungsweise: Offenbar hat man es in Berlin und Bremen noch nicht geschafft, auf diese Herausforderung angemessen zu reagieren; der Lehrermangel in den beiden Stadtstaaten trage noch dazu bei, dass die Bedingungen an manchen Schulen schwierig sind. Aber das Beispiel Hamburg zeige, dass es durchaus Instrumente und Wege gebe, Kinder gezielt und wirksam beim Spracherwerb und damit später auch bei der Aneignung von Schriftlichkeit zu unterstützen, sagt Irene Pieper. Denn während Berlin und Bremen, deren Schülerprofil dem von Hamburg durchaus ähnlich ist, im Bildungstrend eher schlecht abschnitten, gilt das für Hamburg nicht. Wie kann das sein?

Ein Grund: Weil es dort seit zwölf Jahren besondere Anstrengungen bei der systematischen Frühförderung gibt, die offensichtlich sehr zielführend sind. Alle Kinder werden im Alter von viereinhalb Jahren getestet. Zeigt sich eine Verzögerung in der Sprachentwicklung, greift die Schulpflicht im Alter von fünf Jahren. Die Kinder durchlaufen dann ein Vorschuljahr und werden systematisch beim Spracherwerb unterstützt. Auch sei das Hamburger Schulsystem vorbildlich darin, seine Lehrkräfte mit Werkzeug, Fortbildungen und Handreichungen zu versorgen, wie sie ihre Schüler und Schülerinnen in punkto Lesekompetenz fördern können. Auf Angebote zur Professionalisierung bei der Förderung von Lese- und Schreibfähigkeiten legt auch Irene Pieper großen Wert. In diesem Sinne werden an der Freien Universität auch Quereinsteigenden professionelle Angebote gemacht, indem sie ein besonderes Masterprogramm, den sogenannten Q-Master, absolvieren können.

Das Vorlesen fördert auch das Erfassen von komplexen Zusammenhängen

Warum aber ist es so wichtig, dass wir uns gegenseitig Texte vorlesen? Nicht nur für den Umgang mit Schriftlichkeit, sondern auch für unsere Gesellschaft? Irene Pieper sagt: „Zum einen ist das Vorlesen eine sehr einfache Form der Sprachförderung. Wenn Eltern ihren Kindern oder größere Geschwister ihren kleinen Brüdern und Schwestern vorlesen, dann eröffnet ihnen das schon ganz früh die Möglichkeit, an einer reichhaltigen Sprache zu partizipieren.“ Kinder würden so „hineingeholt in literarische Welten“, ihre Vorstellungsbildung wird angeregt, Freude an Geschichten und Neugierde auf mehr gestärkt. Zugleich erführen sie Lust an der Sprache: Weil Kinderbücher so häufig mit sprachspielerischen Mitteln arbeiten, mit Versen und Reimen.

Das führt nicht nur dazu, dass Kinder besser lesen und schreiben lernen, sondern auch dazu, dass sie zunehmend komplexe Zusammenhänge zu erfassen lernen und ihr Urteilsvermögen im Umgang mit Texten trainieren. Was ihnen wiederum zugutekommt, wenn sie später digital weiterlesen – auch Websites bestehen ja zu großen Teilen aus Schrift. Und wer auf Papier gut liest, liest auch im Internet besser, sagt Irene Pieper. Die so ausgebildete Urteilskraft aber ist nicht nur für den Einzelnen von Vorteil, man könnte sogar sagen: Sie ist für das gesellschaftliche Zusammenleben und die Demokratie unerlässlich, weil sie zur Grundausstattung mündiger Bürgerinnen und Bürgern gehört.

Es lohnt sich, nicht nur jetzt, wenn die Tage kürzer werden, zum Vorlesebuch zu greifen. Denn: „Am Montag fraß sich die Raupe durch einen Apfel, aber satt war sie noch immer nicht. Am Dienstag …“.

Für den Inhalt dieses Beitrags ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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