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Digitale Kindheit

© Illustration: Luisa El Bouyahyani, Carolin Först, Andree Volkmann

Digitale Kindheit: "School of One" - Technik im Klassenzimmer

Apps messen den Lernfortschritt, Algorithmen geben den Stoff vor – wie in den USA die neue Technik den Unterricht revolutioniert.

Lange kapierte Elizabeth Karbach gar nichts. Binomische Formeln waren für die Elfjährige oft ein Grund, dass sich ihre braunen Augen mit Tränen füllten: „Ich war total verwirrt, was ich mit dem x machen sollte“, sagt das zierliche Mädchen und spielt mit den Glitzersternchen an ihrer Jeansjacke. Sie will Tänzerin werden. Wozu muss sie denn bitte schön den Umfang eines Kreises ausrechnen oder Distributivgesetze verstehen können? Mathe pauken fand sie so überflüssig, dass ihre Leistungen gegenüber denen ihrer Klassenkameraden zurückfielen. Dann aber wechselte Elizabeth in der sechsten Klasse zur David-A.- Boody-Schule in Brooklyn. In diesem New Yorker Stadtteil revolutioniert die gemeinnützige Organisation „New Classrooms“ seit drei Jahren zusammen mit den Lehrern und dem Schulleiter Dominick D’Angelo den Mathematikunterricht: Sie rissen die Wände der Klassenzimmer raus, warfen Schulbücher weg und entstaubten das althergebrachte Lehrer-Schüler-Modell.

Um Schülern wie Elizabeth Karbach zu erklären, wie man a plus b in Klammern zum Quadrat richtig einsetzt, war „School of One“ jedes Mittel recht: Live-Unterricht mit verschiedenen Lehrern, kleine Lerngruppen, Anweisungen per Kopfhörer und Video oder individualisierte Online-Übungen in der Schule und zu Hause. Irgendwann aber verstand Elizabeth, wie es geht: Das x auszurechnen war ja plötzlich so einfach wie Pirouetten vor dem Spiegel zu drehen! Den Traum von der Tanzkarriere träumt sie weiter. Aber jetzt ist ihre Chance gestiegen, die Highschool zu schaffen.

Elizabeth und ihre Schule in Brooklyn zählen zu den Erfolgsgeschichten der „New Classrooms“. Seit drei Schuljahren wird dort der Mathematikunterricht individuell auf jeden einzelnen Schüler zugeschnitten – und erzielt phänomenale Erfolge. Bevor „School of One“ im Schuljahr 2010/11 Einzug hielt, lag die Leistung der Sechstklässler ein Prozent unter dem Durchschnitt vergleichbarer Schulen in New York City. Als dieselben Kinder die achte Jahrgangsstufe absolvierten, lagen ihre Prüfungsergebnisse bereits elf Prozent über dem stadtweiten Durchschnitt. Und das, obwohl der Staat New York zusammen mit fast allen anderen US-Staaten härtere Tests eingeführt hatte, die sogenannten Common Core State Standards, die Schüler in den ganzen USA fürs College fit machen sollen. Noch eindrucksvollere Erfolgszahlen lieferte die standardisierte Online-Prüfung MAP (Measures of Academic Progress), mit der die Lernfortschritte gemessen werden: Im Mathe-Unterricht hatten sich die Schüler der David- A.-Boody-Schule im vergangenen Schuljahr um sagenhafte 20 Prozent stärker verbessert als der landesweite Durchschnitt.

Nur ein Drittel aller Highschool-Schüler schafft den Abschluss

Wie ein Revoluzzer sieht Joel Rose keineswegs aus. Der Mitbegründer und Direktor der Organisation „New Classrooms“ trägt ein dunkelblaues Jackett ohne Schlips, hat Lachfalten um die Augen und spricht gerne in Bildern. „Wenn dein Auftrag lautet: Flieg mal los, umkreise ein paar Wolkenkratzer und lande wieder genau hier, dann kannst du das nicht“, sagt er und zeigt aus den Fenstern seines Büros im 30. Stock hinunter auf Manhattan. Genauso habe er sich aber gefühlt, als er selbst noch Fünftklässler in Houston, Texas, unterrichtete. „Wenn ich einen neuen Stoff durchgenommen habe, verstand es zwar die Hälfte der Klasse, aber die andere Hälfte nicht. Was sollte ich am nächsten Tag machen? Langweile ich die Hälfte meiner Schüler, weil ich alles wiederhole, oder lasse ich die anderen links liegen und mache weiter? Auf Stärken und Schwächen einzelner Schüler einzugehen, ist im traditionellen Klassenzimmer unmöglich“, sagt Rose. Der Lehrer-Job sei so frustrierend, dass junge Kollegen durchschnittlich nach spätestens fünf Jahren das Handtuch schmissen. Statistisch gesehen schaffen nur ein Drittel aller Highschool-Schüler in den USA ihren Abschluss.

Selbst integriertes Lernen – Präsenzveranstaltung plus E-Learning – konzentriere sich vor allem auf den Einsatz moderner Technologien im Klassenzimmer, wie iPads, Smart-Boards, On-Demand-Videos oder Webseiten. Alles leistungsstarke Instrumente, gibt Rose zu. Aber sie würden meist nicht mit dem traditionellen „Ein-Lehrer-plus-30-Schüler-in-einer-Schachtel-Modell“ brechen. „Wir haben uns überlegt, wie man Schule sozusagen um die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers herum bauen und neu organisieren kann: Wie sieht die Rolle des Lehrers aus, wie kann man moderne Technologie möglichst gut einsetzen, wie verwenden wir den Raum, wie benutzen wir die Zeit?“ Das Konzept „School of One/Teach to One: Math“ wurde entwickelt.

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© Illustration: Luisa El Bouyahyani, Carolin Först, Andree Volkmann

Dabei fing die Organisation nicht bei null an. Wer das Büro in Manhattan besucht, kann dort einen fensterlosen Raum bewundern, dessen Regale bis zur Decke vollgestopft sind mit dicken Büchern. Die Mathe-Cracks von „New Classrooms“ haben 80 000 bestehende Lektionen durchgeackert und daraus 10 000 herausgefiltert, die bestimmte Kriterien erfüllen müssen. Jeder neue Stoff, wie zum Beispiel den Flächeninhalt eines Parallelogramms zu berechnen, kann mit insgesamt acht verschiedenen „Modalitäten“ oder Methoden gelehrt werden: Live-Unterricht, Gruppenarbeit mit Gleichaltrigen, Online-Tutor oder vielleicht lieber ein Video? Mit einem sogenannten „exit slip“, einer kurzen Online-Prüfung, die jeder Schüler täglich am Ende des Unterrichts ausfüllt, überprüft das System, wer den Stoff verstanden hat, wer noch üben muss oder wer bereit ist für eine neue Lektion. Algorithmen errechnen für jeden Schüler individuell, welches die beste Methode ist, damit er den Stoff kapiert. Dann schlägt der Computer die passende Modalität für den nächsten Tag vor.

Die Tür steht offen, es gibt keine Metalldetektoren

Die Intermediate School I.S. 228 David A. Boody, benannt nach dem Brooklyner Bürgermeister David Augustus Boody aus dem 19. Jahrhundert, macht einen freundlichen Eindruck. Das Gebäude mit Klinkerfassade stammt aus den 1930er-Jahren, die knallrot gestrichene Eingangstür steht weit offen, es gibt keine Metalldetektoren, wie sonst oft in den USA, und jemand hat die Erkennungsnummer der Schule in die Buchsbaumhecke auf dem kleinen Rasenstück geschnitten. Innen sieht die öffentliche Schule im Brooklyner Stadtteil Sheepshead Bay aus wie viele New Yorker Lehranstalten. Über den grün gestrichenen Fluren leuchten Neonröhren und die Teppichböden sind fleckig. Die Namen der rund 1000 Schüler im Alter zwischen elf und 14 Jahren sind so multi-kulti wie ihre Gesichter. Sie heißen Nelson Chah, Smaa Hussein oder Nanci Vazquez. 34 Prozent Asiaten, 28 Prozent Weiße, 24 Prozent Lateinamerikaner und 14 Prozent Schwarze gehen hier zur Schule. Der Anteil der frisch zugezogenen Immigranten ist groß, aus wohlhabenden Familien stammt kaum einer. 80 Prozent der Schüler haben sogar Anspruch auf einen „free lunch“, ein warmes Mittagessen auf Schulkosten. Viele Eltern leben von Sozialhilfe, für eine Schuluniform ist kein Geld da, geschweige denn für Nachhilfelehrer, falls es mit dem Englisch noch hapern sollte.

Eine ganz neue Welt betritt man aber im ersten Stock der Schule, wo gerade Mathe beginnt: „School of One“ ist ein riesiger Raum ohne Wände, der ein ganzes Stockwerk einnimmt. Auf den Vorschlag von „New Classrooms“ hatte Schulleiter Dominick D’Angelo die Wände der Klassenzimmer komplett entfernen lassen und so einen hellen, offenen Raum kreiert. So können nur wenige Lehrer die zahlreichen Stationen für die gleichzeitig stattfindenden Methoden überblicken, und die große Fläche erleichtert den Schülern den schnellen Wechsel zwischen den Stationen. Offene Trennwände und andersfarbige Stühle grenzen die einzelnen Arbeitsbereiche voneinander ab. Über den Tischen hängen zur Orientierung Schilder wie Gravesend, Botanical Garden oder Williamsburg – alles Namen von Stadtvierteln oder Sehenswürdigkeiten in Brooklyn.

Wenn es losgeht, ertönt Rockmusik

Wenn es losgeht, ertönt Rockmusik wie bei einer Party. Trotzdem geht es gesittet zu. Langsam trudeln die Schüler ein und suchen ihren Namen auf einem der großen Monitore, die an Bildschirme in Flughafenterminals erinnern. Dort steht das Programm, das den Einzelnen heute erwartet. „Ich bin nicht so schnell, deshalb mag ich am liebsten Virtual Instructions“, sagt die elfjährige Loredana Nicolazzi. „Wir sitzen vor dem Computer, haben unsere Kopfhörer auf und schauen uns die Videos an, ohne die anderen damit zu stören. Ich schreibe mir Sachen auf, aber in meinem eigenen Tempo. Ich kann die Pausetaste drücken, wenn ich will“, erklärt sie. Alle drei Jahrgangsstufen der David-A.- Boody-Schule lernen hier gemeinsam. Manche Achtklässler haben noch Lücken im Bruchrechnen, dagegen sind einige Sechstklässler echte Asse in Geometrie und können schon den Stoff der nächsthöheren Jahrgangsstufe bewältigen.

Der zwölfjährigen Samantha Sidransky gefällt die Gruppenarbeit mit ihren Klassenkameraden am besten. „Wenn ich etwas nicht verstanden habe, kann ich die Frage noch mal stellen. Ich habe meine Noten mit ,School of One‘ sehr verbessert. Letztes Jahr konnte ich nur ein paar ganz einfache Mathematikaufgaben lösen, heute krieg ich 25 Fragen in einer halben Stunde hin“, sagt sie. Daniel Contreras geht in die 7. Klasse: „Am Anfang war ich ein bisschen verblüfft, weil sie hier alles mit dem Computer machen. Aber man muss nicht auf seinen Papierkram aufpassen oder schwere Bücher mit sich herumschleppen. Meine Noten haben sich verbessert, weil ich in meinem eigenen Tempo lerne.“

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© Illustration: Luisa El Bouyahyani, Carolin Först, Andree Volkmann

Auch für die rund 15 Mathelehrer der Schule hat sich die tägliche Arbeit total verändert – zum Positiven. Die Lehrerin Kelly Basacchi testet die Reaktion ihrer Schüler, während sie auf dem Whiteboard den Flächeninhalt einer Ellipse ausrechnet. „Wer hat das gleiche Ergebnis wie ich: Daumen rauf oder Daumen runter“, ruft sie in den Raum. Etliche Daumen recken sich in die Höhe. Zu denen, die unglücklich dreinschauen, setzt sie sich an den Tisch und hilft, während die anderen weiterrechnen. „Wir bringen alle einen unterschiedlichen Lehrstil mit. Wenn ich zum Beispiel etwas erkläre und die Kinder verstehen es nicht, kann es ihnen morgen ein Kollege ganz anders beibringen“, sagt die junge Frau mit den langen dunklen Locken. Sie mag ihre Schüler, das merkt man. Mit ihrem T-Shirt und den Leggings sieht sie selbst nicht viel älter aus.

Eine gute Lehrerin zu werden, sei schon immer ihr großes Ziel gewesen, sagt sie, und „School of One“ sei für sie als Neuling im Beruf einfach perfekt. „In traditionellen Schulen ist man als Lehrer oft auf sich allein gestellt. Hier arbeiten wir alle zusammen, sprechen ständig miteinander, wie man mit einem bestimmten Schüler umgehen sollte, wie man eine Lektion am besten erklärt. Weil die Räume so offen sind, kann ich manchmal hören, wie es die anderen machen. Dann denke ich mir: Das ist eine gute Idee, und ich benutze es auch in meiner Unterrichtsstunde“, sagt sie. Zwar erfahre sie den Plan für den nächsten Tag erst gegen 17 Uhr, wenn die Kinder ihre „exit slips“ abgegeben haben. Aber sie wisse immer genau, wo es bei den Einzelnen noch hakt.

Die Spielregeln haben sich verändert

Niemand ist zufriedener mit dem Erfolg von „School of One“ als Schuldirektor D’Angelo. „Keiner meiner Lehrer möchte jemals wieder in sein altes Klassenzimmer zurück. Warum auch? ‚School of One‘ hat die Spielregeln vollkommen verändert. Man eliminiert die ganze Planung, die Analyse der Daten, die Schulaufgaben und Tests. Das Material wird bereitgestellt – das macht den Job so viel einfacher, und die Lehrer können sich darauf konzentrieren, worin sie am besten sind: lehren“, sagt er. D’Angelo ist hier seit sieben Jahren Direktor. Wenn er auf etwas besonders stolz ist, wird er immer leiser. „Wir sind auf eine Goldmine gestoßen“, sagt er. Er selbst hat Joel Rose damals gedrängt, „School of One“ als Erstes an seiner Schule auszuprobieren. „Ich werde immer gefragt: Wo ist der Haken? Aber es gibt keinen!“.

2009 startete das erste Pilot-Projekt in New York City. Im gleichen Jahr nannte das „Time“-Magazin „School of One“ eine der besten Erfindungen des Jahres. Es war die erste „Unterrichtserfindung“, die es jemals auf die legendäre Liste der Zeitschrift geschafft hat. Heute arbeiten 15 Schulen im ganzen Land mit dem Konzept „School of One/Teach to One: Math“, USA-weit lehrt „New Classrooms“ rund 6000 Schüler Mathematik und verbessert damit ihre Chancen auf eine weiterführende Bildung. „Unser Team hat herausgefunden, was vorher noch nie jemand geschafft hat. Wir liefern für Tausende von Kindern einen individuellen Lehrplan – jeden Tag aufs Neue. Und wir arbeiten weiter hart daran“, sagt Joel Rose.

In Deutschland wird es noch dauern

Bis solche Ansätze in Deutschland großflächig zum Einsatz kommen, wird es allerdings noch dauern, glaubt Ralph Müller-Eiselt, Experte für Digitale Bildung bei der Bertelsmann Stiftung. „Derzeit gibt es nur einzelne Schulen, die mit digitalem, persönlich zugeschnittenem Lernen experimentieren. Aber auch dort geschieht das nicht im großen Stil“, sagt er. „International liegt Deutschland in diesem Bereich deutlich zurück.“

Verantwortlich dafür seien vor allem kulturelle und weniger strukturelle Ursachen. Hierzulande gebe es bei vielen Verantwortlichen große Bedenken gegen digitale Bildung. „Es herrscht die Sorge, dass die Kinder vereinsamen oder die Lehrer gleich ganz ersetzt werden.“ Außerdem sei die Motivation, Neues auszuprobieren, in Deutschland auch deshalb nicht so groß, weil das herkömmliche System – das ja auch schon individuelle Förderung kenne, zum Beispiel durch analoge Lerntagebücher – recht gut funktioniere. „Der Leidensdruck ist nicht so gewaltig“, sagt Müller-Eiselt. „Auf Dauer wird die digitale Bildungsrevolution aber auch in Deutschland nicht aufzuhalten sein.“

Katja Guttmann

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