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Vor allem jenseits der städtischen Ballungszentren dünnt das Angebot aus. Ärzt:innen scheuen die Belastungen einer eigenen Praxis und suchen zumindest für die erste Zeit die Planbarkeit einer Festanstellung.

© Mike Wolf

Ärzt:innen auf dem Land: Anzeichen, dass sich die medizinische Versorgung außerhalb der Städte bessert

Viele junge Mediziner:innen arbeiten heute in Zweigpraxen. Das hilft beim Dauerproblem, die Versorgung jenseits der Ballungszentren zu gewährleisten.

Wolfgang Ritter ist Hausarzt in München und Mitglied im Landesvorstand des Bayerischen Hausärzteverbandes. Mit 14 Kolleg:innen betreibt er in München Sendling eine große Hausarztpraxis. Weil sich die 14 Kassenarztsitze der Praxis auf mehrere Inhaber verteilen, arbeiten insgesamt 25 Mediziner:innen zusammen. Darunter sind neun angehende Fachärzte und Ärztinnen in Weiterbildung, die in der Praxis angestellt sind. Möglich ist das Splitten von Kassenarztsitzen seit die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) Anfang 2007 das Vertragsarztrechts-Änderungsgesetz (VÄndG) auf den Weg brachte. Die Novelle hatte ehrgeizige Ziele: durch Liberalisierung starrer Zulassungskriterien sollte sie dem medizinischen Nachwuchs die Entscheidung für die ärztliche Selbständigkeit schmackhafter machen.

Schon vor 13 Jahren beschäftigten die Organisatoren der ambulanten Versorgung nämlich nahezu die gleichen Fragen wie heute: Vor allem jenseits der städtischen Ballungszentren dünnt das Angebot aus. Junge Ärzt:innen scheuen die Belastungen einer eigenen Praxis und suchen zumindest für die erste Zeit die Planbarkeit einer Festanstellung. Kaum einen zieht es aufs Land, wo Hausärzte im Rentenalter keine Nachfolger mehr finden.

Um diesem Trend entgegenzuwirken, schuf das VÄndG flexiblere Möglichkeiten der Zusammenarbeit in Arztpraxen. Die Berufsausübungsgemeinschaft (BAG), bei der Ärzte gemeinsam eine Praxis mit mehreren Standorten führen können, trat an die Stelle der ortsgebundenen Gemeinschaftspraxis. Sogenannte Teil-Berufsausübungsgemeinschaften ermöglichen es, das Leistungsangebot durch Zusammenarbeit mit Kollegen einer bestimmten Fachrichtung zu arrondieren. Die Gründung einer Zweigpraxis als Nebenbetriebsstätte wurde erlaubt. Niedergelassene Mediziner:innen konnten fortan Kollegen einstellen.

Wettbewerbsfähigkeit des ambulanten Sektors verbessern

All dies war zuvor nur in Ausnahmefällen möglich gewesen. Für Kassenärzte, die mit den Gesetzlichen Krankenkassen abrechnen wollten, war ihre Tätigkeit an eine persönliche Zulassung, Vollzeit und einen festen Standort gebunden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen in Bund und Ländern begrüßten die Reform damals denn auch als Möglichkeit, die Wettbewerbsfähigkeit des ambulanten Sektors gegenüber Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) und Krankenhäusern zu verbessern.

Und auch heute ist die KBV zufrieden: Die Zahl der Zweigpraxen sei in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, meldet die Berufsvertretung der Kassenärzte. Registrierte sie im Jahr 2009 bei den Kassenärzten 3165 Zweigpraxen, stieg deren Zahl moderat auf knapp 4.000 im vergangenen Jahr. Vor allem Medizinische Versorgungszentren (MVZ) machen offenbar von den regulatorischen Erleichterungen Gebrauch. Rechnet man sie hinzu, lag die Zahl der Zweigpraxen im Vorjahr immerhin bei knapp 6500, also beinahe eine Verdoppelung.

Nach Lesart der KBV entschließen sich immer mehr Ärzte für die gemeinsame Berufsausübung in größeren Praxisstrukturen. Vor allem Hausärzte finden offenbar Gefallen an der Teamarbeit. Ihren Anteil am Zweigpraxis-Angebot beziffert die Bundes-KV auf 30 Prozent. Rege sind auch die Fachinternisten mit 13 Prozent, gefolgt von Chirurgen, Orthopäden und Augenärzten mit jeweils zehn Prozent.

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Die Gemeinschaftspraxis von Wolfgang Ritter und seinen Kolleg:innen entschied sich 2013 für die Eröffnung einer Zweigstelle. In der Nachbarschaft entstand ein Neubaugebiet mit Supermärkten, Schulen und mehr als 2500 Einwohnern. Deren wohnortnahe medizinische Versorgung zu sichern hilft jetzt ein Kollege, der seinen Sitz dafür aus der Gemeinschaftspraxis herausnahm. Zusammen firmieren sie nun als Überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft. Ein technischer Umweg, der notwendig wurde, weil das Münchener Stadtgebiet insgesamt als überversorgt gilt und für Praxisneugründungen gesperrt ist.

Für Ritter ist das kollegiale Zusammenarbeiten in flexiblen Strukturen das Konstrukt der Zukunft: „Gerade die jungen Kollegen suchen das Arbeiten im Team, viele möchten auch erst einmal in die Anstellung gehen“, sagt er. Wie es scheint, haben auch die zunächst skeptischen Kassen inzwischen ihren Frieden mit den neuen Anforderungen gemacht. „Wir spüren kaum noch Widerstand“, sagt Hausärztevertreter Ritter.

Zweigpraxen liegen meist auf dem Land

Nach Angaben der KBV zeigen Auswertungen auf Grundlage der Bundesarztregisterstatistiken, dass Zweigpraxen erheblich häufiger im ländlichen Raum zum Einsatz kommen. „Zweigpraxen liegen nach dieser Auswertung oft in erheblicher Entfernung von der jeweiligen Hauptbetriebsstätte, die durchschnittliche Entfernung lag bei 22 Kilometern.“

Vor allem die GKV befürchtete zunächst eine mögliche Erosion bestehender Strukturen zugunsten der Expansion und eine unkontrollierte Ausweitung verhandelter Budgets. Deshalb müssen Ärzte, die eine Zweigpraxis eröffnen wollen, nachweisen, dass durch die Filialgründung die Versorgung am Hauptsitz nicht gefährdet ist. Das mache die Lage vor allem in bedarfsplanungsrechtlich gesperrten Gebieten rechtsunsicher, kritisierten auf das Zulassungsrecht spezialisierte Anwälte. Die grob gefasste Formulierung der gesetzlichen Voraussetzungen schaffe große Interpretationsspielräume.

Zuständig für die Genehmigung ist – soweit die geplante Filiale im gleichen KV-Bezirk liegt – eben jene. Wer darüber hinaus expandieren will, muss sich beim zuständigen Zulassungsausschuss die Genehmigung einholen. Dabei können Fachärzte über den Umweg der Filialgründung durchaus Zulassungsbeschränkungen speziell in überversorgten Gebieten umgehen: „Eine Bedarfsplanung im engeren Sinne, wie bei der Zulassung als Vertragsarzt, sieht das Gesetz nicht vor“, sagt der Düsseldorfer Fachanwalt für Medizinrecht, Dirk Niggehoff. „Die Zweigpraxis ist ein abgeleitetes Recht aus dem Status der Zulassung und wird insofern bedarfsplanungsneutral erteilt.“

Nach Auffassung des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration bietet die Filialpraxis ihren Betreibern die Chance, flexibel auf strukturelle Bedarfe vor Ort zu reagieren. Deshalb will das Ministerium die Ansiedlung von Zweigpraxen auf dem Land unterstützen. So steht es in einer neuen Förderrichtlinie zur gesundheitlichen Versorgung insbesondere in ländlichen Räumen.

Keine Pflicht zur Sprechstunden-Mindestzahl

Nach Angaben der KV Hessen ist die Zahl der Zweigpraxen dort seit 2007 um rund 300 Prozent gestiegen, die der Hauptbetriebsstätten mit mindestens einer Zweigpraxis um etwa 242 Prozent. Der gewünschte Versorgungseffekt werde erreicht. Im Bereich der hausärztlichen Versorgung könnten gerade ländliche Gebiete, in denen ein voller Praxissitz nicht ausgelastet wäre, über Zweigsprechstunden bedarfsgerecht versorgt werden. Allerdings gibt selbst die KV zu bedenken, dass eine Zweigpraxisgenehmigung ein Versorgungsrecht darstelle, nicht aber eine Versorgungspflicht. Anders als beim zugelassenen Hauptstandort bestehe keine Verpflichtung auf eine Mindestanzahl an Sprechstunden. Deren Umfang können die Antragsteller frei wählen.

Ein wirtschaftlicher Selbstläufer sei die Zweigpraxis deshalb aber noch lange nicht: „In kleineren Orten in ländlichen Gebieten bedeutet der Betrieb einer Zweigpraxis für Praxen oder MVZ eher Mehrkosten, als einen wirtschaftlichen Benefit“, bemängeln die Ärztevertreter. Daher fördere auch die KV Hessen seit 2017 den Betrieb einer Zweigpraxis in (drohend) unterversorgten Gebieten und solchen mit besonderem Versorgungsbedarf pauschal mit 10.000 Euro. Als Instrument zur Sicherstellung der Versorgung können sie nach Angaben der KBV auch aus dem Strukturfonds gefördert werden. Bereits vor vier Jahren zogen Manager der KV Westfalen-Lippe im Deutschen Ärzteblatt Bilanz. Ihr Fazit: Die neuen Möglichkeiten würden in großem Umfang angenommen. Doch sei die Praxisfiliale kein Massenphänomen – in der Regel liege der Anteil von Ärzten oder Psychotherapeuten mit Filiale je Fachgruppe bei unter fünf Prozent. Nach Zählung der Bundes-KV ist die Einzelpraxis noch immer die am stärksten vertretene Praxisform, allerdings nehme ihre Zahl überproportional ab.

Die Anstellung in einer Praxis werde vielfach für einen Einstieg in die ambulante Arbeit genutzt, ohne sich durch große Investitionen zu binden und ohne sich für den weiteren Lebensweg festlegen zu müssen, analysiert die KV Westfalen-Lippe. „Ebenso nutzen viele Ärzte am Ende ihrer Laufbahn den Wechsel von der Zulassung in die Anstellung, was ihnen Optionen zur Weiterarbeit und zu einem flexiblen Ausstieg aus der Berufstätigkeit eröffnet.“ Bewährt habe sich besonders die Zweigpraxis, die mit einem angestellten Arzt in Vollzeit besetzt ist – und damit eben nicht ein nur zeitlich begrenztes Versorgungsangebot durch den Betreiber des Hauptstandortes darstellt.

Sabine Rößing

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