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Peter Altmaier (CDU), Bundesminister für Wirtschaft und Energie

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Altmaier erhöht Prognose für Strombedarf: E-Autos und Wärmepumpen lassen den Strom knapp werden

Die Klimaziele werden erhöht, das Wirtschaftsministerium schraubt auch seine Stromverbrauchsprognose für 2030 nach oben – und hofft auf mehr Windenergie.

Von Jakob Schlandt

Mehr Wärmepumpen, mehr E-Autos, mehr Elektrolyseure für die Wasserstoffproduktion – wegen des absehbar hochschnellenden Strombedarfs hat das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) seine Verbrauchsprognose für das Jahr 2030 erhöht. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) rechnet nun mit einem Bedarf von 645 bis 665 Terawattstunden (TWh) statt mit 580 Terawattstunden wie bisher.

Es sei noch nicht entschieden, ob man sich am Mittelwert von 655 TWh orientieren werde „oder am oberen Rand“, sagte Altmaier bei der Vorstellung der Zahlen. Das will er teils von den Vorgaben des sogenannten Fit-for-55-Pakets der EU abhängig machen, das heute in Brüssel präsentiert wird.

Altmaiers neue Vorhersage beruht auf vorläufigen Berechnungen des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos. Finale Ergebnisse sollen bis zum Herbst vorliegen. Prognos hat seiner Verbrauchsprognose unter anderem eine E-Auto-Flotte von 14 Millionen Fahrzeugen inklusive Plug-in-Hybriden im Jahr 2030 zugrunde gelegt. Bisher war das Ministerium von sieben bis zehn Millionen Fahrzeugen ausgegangen. Außerdem sollen im Stichjahr nach neuer Berechnung sechs Millionen Wärmepumpen die Gebäude heizen.

Seine Prognose für inländisch mit grünem Strom produzierten Wasserstoff schraubt das BMWi ebenfalls nach oben. Dieser werde 19 TWh entsprechen statt 14 TWh wie noch in der Nationalen Wasserstoffstrategie (NWS) avisiert. Dadurch steigt der Strombedarf zur Herstellung des Wasserstoffs laut BMWi von 20 auf 30 TWh.

Bei der Ausschreibung im Rahmen des europäischen IPCEI-Förderschemas für Wasserstoff habe man „große Dynamik in diesem Bereich“ festgestellt, sagte Altmaier. IPCEI sei mehrfach überzeichnet gewesen. Auch Unternehmen, die nicht zum Zuge gekommen seien, führen mit ihren Projektplanungen fort. Altmaier rechnet damit, dass bis 2030 mehr als die in der NWS angesetzten fünf Gigawatt Elektrolysekapazität aufgebaut werden.

Blick auf eine Hochspannungsleitung bei Kolitzheim in Bayern
Blick auf eine Hochspannungsleitung bei Kolitzheim in Bayern

© picture alliance / dpa

Die deutschen Gasfernleitungsnetzbetreiber kamen jüngst nach einer Marktanalyse im Rahmen ihrer Netzausbauplanung zu der Erkenntnis, dass Industrie- und Energieunternehmen bis 2030 sogar das Vierfache der in der NWS angesetzten Elektrolysekapazität planen.

Damit sich eine Aussicht eröffnet, das neue Gesamtstromziel bis 2030 bei fortschreitendem Kohleausstieg auch zu erreichen, will Altmaier bei der Windenergie den Druck auf die Bundesländer erhöhen. Er sei „sehr unzufrieden mit dem Ausbau der Windenergie an Land“, sagte er und kündigte an, die Länder zu einer Ausweitung der Flächen für Windkraft zu drängen: „Ich möchte, dass wir für jedes Bundesland konkrete Ziele absprechen.“

Die Länder könnten unterschiedlich vorgehen, aber: „Am Ende muss der Ausbaupfad übereinstimmen mit der Summe der Ziele“. Die Bundesländer müssen laut EEG ohnehin bis zum 31. August über den Ausbaufortgang Bericht erstatten. Auf dieser Grundlage soll dann wiederum die Bundesregierung berichten, inklusive einer weiteren Verbrauchsprognose.

So will Altmaier für mehr Strom sorgen:

  • Naturschutz im Windkraftkontext muss nach Altmaiers Verständnis künftig den Schutz von Arten insgesamt priorisieren, nicht den Schutz einzelner Tiere. Sonst sei der gegenwärtige Genehmigungsstau für Projekte nicht auflösbar.
  • Bei der Offshore-Windenergie will Altmaier prüfen, ob sich das geltende Ziel von 20 Gigawatt Erzeugungskapazität bis 2030 vorziehen und sich die Zielsetzung für die Zeit danach sich erhöhen lässt. Derzeit sind 40 GW bis 2040 angepeilt.
  • Bei der Solarenergie lehnt er eine ordnungsrechtliche Pflicht zur Installation von Photovoltaik auf neuen oder zu renovierenden Häusern ab, er sprach sich stattdessen für Investitionszuschüsse aus.

Beim Netzausbau berief sich Altmaier auf die Übertragungsnetzbetreiber, die mit der Fertigstellung der drei großen im Bau befindlichen HGÜ-Stromtrassen erst 2028 rechnen. Der Netzausbau werde eine „große Herausforderung“ sein, sagte er, man wolle den Bau der aktuellen Trassen beschleunigen. Würden ein bis zwei weitere HGÜ-Trassen notwendig, wolle man deren Planungs- und Bauzeitraum auf acht Jahre verringern, was anderen Ländern bereits gelinge.

Altmaier präsentierte sich als Antreiber der Energiewende, sprach von einem „Turnaround“ in der Energiepolitik unter der jetzigen Bundesregierung und listete relevante Beschlüsse und Gesetze während seiner Amtszeit als zuständiger Minister auf. Die Neuberechnung der Stromverbrauchsprognose hatte er am 11. Juni angekündigt. Wenn es nach ihm ginge, werde das Endergebnis noch vor der Bundestagswahl vorliegen, sagte der Minister. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Mai das Klimaschutzgesetz per Urteil für nicht generationengerecht befunden und so eine Überarbeitung unter Hochdruck mit dem Ziel der Klimaneutralität 2045 ausgelöst.

Die alte Prognose von 580 TWh, die dem Ökostromziel von 65 Prozent aus dem Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zugrunde liegt, war auch aus der Opposition im Bundestag und von Energieverbänden als viel zu niedrig kritisiert worden. Der Grünen-Abgeordnete Oliver Krischer warnte gestern in Bezug auf die Stromtrassen vor einem „Planungschaos beim Ausbau des Stromnetzes, das die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler viele Millionen Euro kosten wird“. Altmaier habe den Bedarf in der alten Prognose „künstlich kleinrechnen“ wollen. Angesichts der neuen Zahlen erwartet Krischer, dass die Stromtrassen noch einmal umgeplant werden müssen.

Der Wirtschaftsminister hatte schon im März 2018 angekündigt, er werde den Netzausbau zur „Chefsache“ machen. Übertragungsnetzbetreiber kamen in den Folgejahren jedoch mit Forderungen nach einem deutlich umfangreicheren Netzausbau zum Transport der wachsenden Strommengen bei dem CDU-Politiker nicht durch.

Auch bei der Elektromobilität gab es bereits frühzeitig Prognosen, die nah an Altmaiers heutiger Zahl von sieben Millionen E-Autos 2030 liegen. Die Bundesnetzagentur selbst – sie ist dem BMWi nachgeordnet – hatte 2019 den Netzentwicklungsplan 2030 der Übertragungsnetzbetreiber bestätigt. Darin wird in einem mittleren Szenario für das Stichjahr mit einer Flotte von sechs Millionen E-Fahrzeugen gerechnet, in einem ambitionierteren Szenario mit zehn Millionen.

„Erneuerbaren-Ausbau unverantwortlich ausgebremst“

Die energiepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Julia Verlinden, warf Altmaier und der Union vor, sie habe die alte, niedrigere Verbrauchsprognose genutzt, „um den Erneuerbaren-Ausbau in unverantwortlicher Weise auszubremsen“. Jetzt reiche der „von der Koalition gedeckelte Ausbau“ nicht, um die deutschen Klimaziele zu erreichen.

Für den energiepolitischen Sprecher der FDP, Martin Neumann, blieb nach Altmaiers Ankündigungen „fraglich, woher die zusätzlichen circa 15 Prozent kommen sollen". Der Windkraftausbau stocke schon seit Jahren und Importstrom werde immer teurer. Angesichts der neuen Prognose befürchtet Neumann eine große Stromversorgungslücke.

„Hätte ihre Prognose schon viel früher anpassen können“

Nach Einschätzung des Energiewirtschaftsverbandes BDEW hat Altmaier mit der Neuberechnung lediglich das Offenkundige anerkannt: „Es ist schon seit Langem klar, dass mehr Strom benötigt wird, wenn Millionen E-Autos und Wärmepumpen auf dem Markt sind und immer mehr grüner Wasserstoff produziert wird. Die Bundesregierung hätte ihre Prognose schon viel früher anpassen können“, kommentierte Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae. Der BDEW geht mit seiner Strombedarfsprognose für 2030 mit 700 TWh über die Vorhersage des BMWi hinaus. Jetzt müssten „endlich die Hemmnisse für Wind an Land beseitigt und ein PV-Boom ausgelöst werden“, forderte Andreae.

Der Bundesverband Erneuerbare Energie, der mit einem Bruttostromverbrauch von 745 TWh 2030 rechnet, bemängelte, dass trotz revidierter Verbrauchsprognose noch immer keine Klarheit für den Ausbau der Wind- und Solarenergie herrsche. Das sei eine „Negierung der getroffenen Annahmen“. Die nächste Bundesregierung müsse spätestens in ihren ersten 100 Tagen „den Erneuerbaren-Turbo in allen Sektoren und für die Sektorenkopplung einschalten“.

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