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Alarmiert in Brüssel: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen droht Deutschland mit einem Vertragsverletzungsverfahren.

© REUTERS

Urteil zu Anleihekäufen: Dass sich bloß niemand das Bundesverfassungsgericht als Vorbild nimmt

Die EU-Kommission ist vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen alarmiert. Nationale Gerichte dürfen sich nicht über den EuGH stellen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG), das die Praxis der Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise für rechtswidrig erklärt hat, hat größtes Befremden bei der EU-Kommission ausgelöst. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen droht mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu:

Warum will Brüssel ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten?

Die EU-Kommission hat zwei Aufgaben: Sie muss Gesetzesvorschläge erarbeiten. Und sie muss darüber wachen, dass in allen EU-Mitgliedstaaten die EU-Verträge – die so etwas wie die Verfassung der Staatengemeinschaft sind – eingehalten werden.

Das Karlsruher Urteil stellt aus Sicht der Kommission einen Verstoß gegen die EU-Verträge dar, weil die Karlsruher Richter eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht akzeptiert haben. Die deutschen Verfassungsrichter maßen sich damit an, über dem EuGH zu stehen, der laut EU-Verträgen, die oberste Rechtsinstanz in der EU ist.

Was besagt das Karlsruher Urteil?

Wichtig ist zunächst, was das Urteil nicht besagt. Das höchste deutsche Gericht hat nicht bestritten, dass die EZB Staatsanleihen im großen Stil aufkaufen darf. Das Urteil gibt damit auch Raum für die Fortsetzung der Anleihekäufe in der Zukunft.

Das Gericht rügt vielmehr, dass die EZB die Käufe nicht hinreichend geprüft und ordentlich begründet habe. Dies müsse nun nachgeholt werden, ansonsten müsse der Bundesbank die Teilnahme an den Anleihekaufprogrammen untersagt werden.

Worin liegt die Sprengkraft des Urteils?

Problematisch ist, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil gegen den EuGH gestellt hat. Dieser hatte in einem früheren Urteil die Anleihekäufe durch die EZB für rechtens erklärt, die jetzt vom BVG moniert wurden. Damit hat das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenzen überschritten.

Die EZB ist eine europäische Institution. Sie ist politisch unabhängig. Sie unterliegt gerichtlicher Kontrolle, aber nicht in den Mitgliedstaaten, sondern durch den in Luxemburg ansässigen EuGH, der für alle europäischen Institutionen und Gesetze die oberste Streitschlichtungs-Instanz ist.

Welche Folgen hat das Urteil für die Anleihekäufe?

Die EZB hat vor wenigen Wochen ein Staatsanleihe-Kaufprogramm im Volumen von 750 Milliarden Euro beschlossen, das PEPP genannt wird. Es ist als Hilfsmaßnahme für die EU-Mitgliedstaaten in der Coronakrise gedacht. Es soll Ruhe in die Finanzmärkte bringen und dazu beitragen, dass Investoren nicht zu hohe Risiko-Aufschläge bei Anleihen von hochverschuldeten Staaten wie Italien verlangen. Das Urteil schließt eine Teilnahme der Bundesbank an diesem Programm nicht aus.

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Die EZB könnte Kritikern helfen, indem sie – wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert – ihre Verhältnismäßigkeitsprüfung vor dem Anleihekaufprogramm ausgiebig erläutert. Sie könnte erläutern, dass die Anleihekäufe nötig seien, um das Ziel für Geldwertstabilität von zwei Prozent Inflation im Jahr zu erreichen. Finanzpolitisch wären so die Folgen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts gut beherrschbar.

Welche europapolitischen Folgen hat das Urteil?

Die größeren Gefahren des Urteils liegen in den rechtspolitischen Folgen. Der grüne EU-Finanzexperte Sven Giegold: „Die Bedeutung der Entscheidung ist für die Rechtsgemeinschaft der EU grundlegender als für die Währungsunion des Euro.“ Das Konfliktpotenzial besteht darin, dass sich ein nationales Gericht über den EuGH gestellt hat.

Die Sorge ist, dass dieses Beispiel Schule macht. Verfassungsgerichte in anderen Mitgliedstaaten könnten sich ebenfalls auf den Standpunkt stellen, dass der EuGH Fehlentscheidungen getroffen hat. Damit wäre die EU erledigt. Es gäbe keine juristische Instanz mehr, deren Entscheidungen von allen EU-Mitgliedstaaten als verbindlich angesehen würden.

Wie realistisch ist diese Gefahr?

Die Sorge ist durchaus konkret. Kanzlerin Angela Merkel hat nach Informationen aus Teilnehmerkreisen in der Präsidiums-Schaltkonferenz der CDU am Montag konkret darauf hingewiesen: Es sei heikel, weil sich andere EU-Regierungen bereits auf das Urteil bezogen und es begrüßt hätten. Merkel spielt dabei auf den polnischen Regierungschef an. Mateusz Morawiecki hatte „von einem der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union“ gesprochen.

Hintergrund sind die Auseinandersetzungen zwischen der EU-Kommission und der polnischen Regierung um die Rechtstaatlichkeit. Der EuGH hatte wiederholt Justizreformen in Polen für nicht mit EU- Recht vereinbar erklärt und auf Rückabwicklung bestanden. Bislang hat die polnische Regierung sich an die Urteile des EuGH gehalten. Ob das nach dem Karlsruher Urteil so bleibt, ist offen. Auch mit Ungarns Viktor Orban und Tschechiens Andrej Babis gibt es Konflikte. Giegold mahnt: „In diesen Zeiten wirkt die Entscheidung wie eine Einladung auch an andere nationale Höchstgerichte, die Auslegung von Europarecht durch den EuGH zu umgehen.“

Welche Lösung gibt es?

Zunächst einmal muss es darum gehen, die Zukunft des Anleihekaufprogramms nicht zu gefährden. Letztlich steht die Stabilität der Währung Euro auf dem Spiel, wenn es Zweifel an der Handlungsfähigkeit der EZB und der politischen Unterstützung der EZB geben sollte. Daher sollten sich die EZB-Notenbanker pragmatisch verhalten und die Begründungen für die Kaufprogramme so ausführlich formulieren, dass sie Kritikern nicht neue Nahrung geben.

Rechtspolitisch ist die Lösung schwieriger. Letztlich müssen sich die Regierungen, die Kommission und die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten darauf einigen, dass der EuGH die höchste Instanz ist, alle seine Entscheidungen akzeptieren und die nationalen Gerichte diese letzte Instanz nicht infrage stellen.

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