Er brachte die Beatles ins sozialistische Klassenzimmer. Und Peter Maffay kam zu ihm nach Hause.
Fritz Herbert wuchs in Obhut von vier Müttern auf. Er war ein Flüchtlingskind, seine Familie war aus Stettin vertrieben worden: Vater, Mutter, drei fast erwachsene Töchter. Bezugsscheine für Milch bekamen damals nur Schwangere. „Wer kriegt denn nun das Kind?“, fragte die Milchfrau verwundert: Die Mädchen waren 14, 18 und 19 Jahre alt, ihre Mutter war 46. Sie war zum Arzt gegangen, weil es in ihrem Bauch rumorte. Das sind die Wechseljahre, hatte sie vermutet. Das ist der vierte Monat, hat der Arzt erwidert. Nun freuten sich vier Frauen mit dem Vater auf das Kind.
Dass es ein Junge werden würde, stand außer Frage. Was sonst, nach diesem Krieg, der kaum gesunde Männer zurückgelassen hatte. Der Vorname des Kindes entschied sich in der Stunde seiner Geburt, beim Blick auf die Uhr: Der Vater hieß Fritz wie der Großvater, der Urgroßvater ebenso und dessen Vorfahren seit dem 18. Jahrhundert auch. Der Vater wollte die Tradition pflegen, die Mutter sie brechen. Sie schlossen einen Pakt: Kommt das Kind am Geburtstag des von beiden verehrten Goethe, dem 28. August, soll es Wolfgang heißen.
Am 27. August gegen 23 Uhr 30 wird Fritz Herbert geboren.
Im dritten Schuljahr wechselt der Junge an eine R-Klasse. R steht für Russisch – und zugleich für besonders begabte Schüler. Fritz entwickelt sich zum Russisch-As. Nebenbei lernt er Englisch, das er als Beatles-Fan der ersten Stunde gut gebrauchen kann. Natürlich gehören die Beatles nicht in R-Klassen. Fritz schleust sie in Form einer Wandzeitung ins Klassenzimmer ein. Wandzeitungen sind große Pinnbretter aus Styropor, auf denen normalerweise die neuesten Nachrichten vom unaufhaltsamen Siegeszug des Sozialismus dokumentiert werden: der Erlös des letzten Soli-Basars, Fotos von der Pioniergeburtstagsfeier, das Gedenken an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Oder, im Fall von Fritz Herbert, die Beatles und ihre Botschaft. Mit dem scheinheiligen Nachsatz „Das ist nicht unsere Musik!“ rundet der Russischschüler sein Werk ab.
Er ist kein Fan der DDR, aber er richtet sich seine Nische ein. Im Hauptberuf entwickelt er Bauelemente fürs Werk für Fernsehelektronik in Oberschöneweide. Nebenbei schreibt er Schallplattenkritiken und interviewt Musiker für die Monatszeitschrift „Magazin“ und die in Schwerin erscheinende „Norddeutsche Zeitung.“ Die Beatles bleiben unerreichbar, aber zu den Stars der DDR findet er Wege. Er ist ebenso freundlich wie hartnäckig. Entweder er öffnet selbst die Tür oder er kennt jemanden, der jemanden kennt, der ihm den Weg zu den Stars bahnt.
1987 gibt Peter Maffay ein Konzert in Prenzlauer Berg. Fritz Herbert erfährt, dass die Band im Hotel Unter den Linden wohnt, nimmt einen Urlaubstag und legt sich auf die Lauer. Mit Erfolg: Als Maffay die Lobby betritt, sitzen sein Bassist und Fritz Herbert bereits plaudernd in einer Ecke. Maffay gesellt sich dazu, man versteht sich ausgezeichnet. Ein paar Tage später bedankt sich der Chefredakteur der „Norddeutschen Zeitung“ schriftlich bei Fritz Herbert für das Interview – und schiebt eine Kritik hinterher: „Schade, dass Sie nicht die Frage mit eingebaut haben, was Peter Maffay das Engagement in der BRD-Friedensbewegung bedeutet und was den Anstoß zu diesem Engagement gegeben hat.“ Fritz Herberts Welt ist nicht die Politik. Und das Interview mit Maffay ist nicht nur ein Job, sondern der Beginn einer Freundschaft.
Fritz Herbert und Peter Maffay halten Kontakt. Nicht ständig, aber regelmäßig. Mal besucht der Schreiber den Star in Bayern oder auf Mallorca, mal kommt Maffay auf einen Kaffee ins Haus der Herberts. Hin und wieder springen ein paar Freikarten für Fritz Herbert oder ein bisschen Publicity für Peter Maffay heraus. Aber meist unterhalten sie sich auf gleicher Augenhöhe: zwei, die sich nichts schulden.
Vom Werk für Fernsehelektronik bleibt nach der Wende wenig übrig. Fritz Herbert hält sich mit Zeitverträgen für Forschungsprojekte an Universitäten über Wasser und holt endlich seine lang ersehnte Promotion nach. Er reist um die Welt, hält Fachvorträge über Löttechniken. Nebenbei interviewt er für Musik-Magazine Udo Lindenberg, Led Zeppelin, Nazareth, Deep Purple, Metallica.
Dann wieder eine Einladung von Maffay: Der Musiker will auf Mallorca ein Stiftungshaus für misshandelte Kinder eröffnen. Der Termin fällt auf einen Mittwoch. Die Herberts wollen ein paar Tage auf der Insel bleiben, um noch ihren Hochzeitstag zu feiern. Dienstagnachmittag landen sie in Palma de Mallorca, Dienstagabend gehen sie ein paar Schritte spazieren. An einer kleinen Landstraße, hintereinander, links. In einer lang gezogenen Kurve kommt ihnen ein Auto entgegen, muss dem Gegenverkehr ausweichen und erfasst Fritz Herbert. Er stirbt an seinem 21. Hochzeitstag und hinterlässt vier Söhne. Einer von ihnen heißt Fritz.