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Wirtschaft: „Gewerkschaften am Scheideweg“

DGB-Chef Michael Sommer will Mitgliederschwund stoppen/Hartz IV ist kein Thema mehr

Berlin - Der jahrelange Mitgliederschwund in den Gewerkschaften hat DGB-Chef Michael Sommer zu einer dramatischen Einschätzung veranlasst: „Die Gewerkschaften stehen letztendlich am Scheideweg“, sagte Sommer am Mittwoch in Berlin. Ende vergangenen Jahres waren noch gut sieben Millionen Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft organisiert, 350000 oder 4,8 Prozent weniger als ein Jahr zuvor. Seit 1991 sinkt die Zahl der Mitglieder Jahr um Jahr. Sommer kündigte im Rahmen seiner Neujahrspressekonferenz ein „Projekt Trendwende“ an, mit dem im Verlauf des nächsten Jahres ein positiver Mitgliedersaldo erreicht werden soll. Unter anderem möchte Sommer mit einer Internetplattform jedem Mitglied „unmittelbaren Zugang zu individuellen Service- und Beratungsleistungen“ anbieten.

Der DGB-Chef warnte vor weiteren Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaften, die sich auch negativ auf die Mitgliederentwicklung auswirkten. Im vergangenen Jahr hatte es vor allem zwischen IG-Metall-Chef Jürgen Peters und dem Vorsitzenden der IG-Bergbau, Chemie, Energie, Hubertus Schmoldt einen zum Teil öffentlich ausgetragenen Disput über den Umgang mit der sozialdemokratischen Bundesregierung gegeben. Die gewerkschaftlichen Versuche zur Verhinderung oder Veränderung der Hartz IV-Reform haben sich Sommer zufolge erledigt. „Wir werden keine Schlachten von gestern erneut schlagen.“

Die Sozial- und Arbeitsmarktreform „ist nicht mehr rückgängig zu machen“. Die Gewerkschaften würden sich deshalb im laufenden Jahr auf „Verbesserungen im System“ konzentrieren, sofern vor allem ältere Arbeitslose große Nachteile erführen. Ferner kündigte Sommer eine aufmerksame Überprüfung der Förderung und Vermittlung durch die Arbeitsagenturen an. Der DGB-Chef deutete Fehler an, indem er die rhetorische Frage aufwarf, „ob wir gesellschaftspolitisch bislang auf dem richtigen Weg waren“. Beispielsweise räumte Sommer ein, dass die Lohnzusatzkosten durch die Sozialversicherungsbeiträge den Faktor Arbeit verteuerten. In Teilen der IG Metall und bei Verdi wird der Zusammenhang zwischen hohen Sozialbeiträgen/Lohnnebenkosten und der Beschäftigung geleugnet.

Die bisherigen Reformen der Sozialsysteme machen den Sozialstaat nach Einschätzung Sommers nicht „dauerhaft zukunftsfest“. Es sei vielmehr notwendig, „sich über Strukturen, Aufgaben und Ziele des Sozialstaats sowie seine Finanzierung durch Steuern und Abgaben grundlegend neu zu verständigen“. Sommer plädiert seit längerem für eine Verlagerung innerhalb des Steuersystems: Weg von den direkten (Einkommensteuer), hin zur indirekten (Mehrwertsteuer) Steuern, um auch dadurch Kosten vom Faktor Arbeit zu nehmen. Allerdings ist auch dieser Vorstoß bislang bei den großen Gewerkschaften auf Ablehnung gestoßen.

Im kommenden Oktober will der DGB-Vorsitzende die Spitzen der Europäischen Gewerkschaftsbünde nach Berlin einladen. Bei dieser Trade Union Leaders Conference gehe es darum, Europa auch nach sozialen Gesichtspunkten zu gestalten. „Denn nur wenn Europa stark ist und dabei seine sozialen Wurzeln nicht vergisst, wird es in der Globalisierung bestehen können“, sagte Sommer. Bereits am 19. März würden Gewerkschafter aus ganz Europa in Brüssel „für ein soziales Europa demonstrieren“, kündigte der DGB-Vorsitzende an.

Im Rückblick auf 2004 sprach Sommer von „keinem guten Jahr“ für die Arbeitnehmer. „Der Anteil der Löhne und Gehälter am Bruttoinlandsprodukt sank auf 69,5 Prozent, demgegenüber kletterten die Gewinne auf 30,5 Prozent“, erläuterte der DGB-Vorsitzende. Den Gewinnanteil betreffend sei das der höchste Stand seit 1971. In einer Phase von inländischer Stagnation und exportgetriebenem Wachstum „hat damit eine gewaltige Umverteilung von Einkommen zu Gewinnen stattgefunden“, sagte Sommer.

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