Wirtschaft: Großer Treck nach Osten
Die Autohersteller zieht es in die neuen Länder – ihre Werke in Leipzig, Dresden oder Zwickau zählen zu den produktivsten der Welt
Leipzig liegt jetzt jenseits der 100000. Schon seit Wochen. Ein Ende ist nicht abzusehen – das Display steigt und steigt, Ende Januar stand es erst bei gut 92000. Schuld daran ist der Briefträger: Er bringt immerzu noch mehr Bewerbermappen von Leuten, die im neuen, gerade entstehenden BMW- Werk arbeiten wollen. Gezählt wird der Ansturm von einer Anzeigetafel an der Wand des Besucherzentrums auf der Baustelle. „Die Leute rennen uns die Bude ein“, sagt Hubert Bergmann, Sprecher des neuen Werks. „Wir sind wohl so etwas wie ein Hoffnungsträger für die Region.“
Kein Wunder – immerhin hat der Autobauer mit dem weiß-blauen Logo den Leipzigern 5500 Arbeitsplätze versprochen, als er sich im Juli 2001 entschied, ein neues Automobilwerk für eine Milliarde Euro aus dem sächsischen Boden zu stampfen. Und 5000 weitere Jobs sollen nach und nach bei der Zuliefer-Industrie entstehen. Das ist eine Menge für eine Region, in der die örtliche Arbeitsagentur 75000 Menschen ohne Stelle zählt und die Arbeitslosenquote bei mehr als 19 Prozent liegt.
Nicht nur in Leipzig, in ganz Ostdeutschland herrscht dank der Autoindustrie Aufbruchstimmung. Daimler-Chrysler, Opel, BMW, Porsche, Volkswagen – alle namhaften Hersteller produzieren mittlerweile irgendwo in den neuen Ländern, ob den VW Phaeton in Dresden oder den Porsche Cayenne in Leipzig. Seit der Wende sind Investitionen von schätzungsweise mehr als fünf Milliarden Euro in den Osten geflossen, und bald werden 30000 Menschen in den Hallen der Hersteller eine Arbeit gefunden haben. „Die Branche ist mittlerweile der zweitwichtigste Industriezweig in den neuen Ländern, die Wachstumschancen sind blendend“, sagt Siegfried Beer, Experte beim Institut für Wirtschaftsforschung Halle.
Zum Teil haben die Hersteller nach der Wende alte Werke auf den neuesten Stand gebracht, zum Teil hypermoderne Fabriken neu hochgezogen. Das Opel-Werk in Eisenach etwa gilt als eines der effizientesten der Welt. Gegen Billig-Standorte wie Südamerika und Asien können sich die neuen Länder nun locker behaupten, wie eine Studie des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) ergab – nur gegenüber Osteuropa haben Thüringen, Sachsen oder Brandenburg noch mitunter keine Chance. Beim Kampf um das BMW-Werk in Leipzig hatte aber selbst das tschechische Kolin das Nachsehen – wie auch rund 250 andere Standorte weltweit.
„Produktivität steigt um ein Viertel“
In Leipzig soll die BMW- Dreier-Reihe vom Band laufen, damit im bisherigen Werk Regensburg Platz frei wird für die neue Einser-Reihe. Viele der Fabrikhallen auf dem 270 Fußballfelder großen Gelände sind schon fertig, die ersten Roboterschweißarme machen bereits Lockerungsübungen. Im Frühjahr 2005 soll die Produktion anlaufen. „Dann wird das Leipziger Werk um bis zu 25 Prozent produktiver sein als andere im Konzern“, hofft Firmensprecher Bergmann.
Dann steht die Grundstruktur – die Zulieferindustrie indes kommt erst allmählich hinterher. Für das neue Porsche-Werk in Leipzig war sie ohnehin kaum nötig, da dort überwiegend vorproduzierte Teile aus Tschechien montiert werden. Wegen des ungebrochenen Trends zum Outsourcing im Automobilbau werden die Zulieferer aber immer wichtiger, auch in puncto Arbeitsplätze. Doch schon jetzt ist der Osten mehr als eine verlängerte Werkbank des Westens, sagt Peter Thomsen, Geschäftsführer des Industrieverbandes VDA. „Mit den Fahrzeugherstellern haben sich auch zahlreiche Zuliefererunternehmen in den neuen Ländern angesiedelt. Weitere, auch Betriebe ausländischer Zulieferer, sind im Aufbau, teilweise sogar direkt auf dem Gelände der Herstellerwerke.“
Doch dieser Prozess dauert – das ist auch den Leipzigern klar. Sie hoffen zwar auf bis zu 20000 Arbeitsplätze durch die neuen Autofabriken. „Es wird aber wohl noch ein paar Jahre dauern“, sagt Detlef Schubert, Wirtschaftsbeigeordneter in Leipzig. „Aber wir haben durchaus das Potenzial, ein kleines Detroit zu werden.“