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Ein zurückgebauter Wohnblock der „Ahrensfelder Terrassen“ in Marzahn. Im Bild aus dem Jahr 2004 sind hinten noch die ursprünglich elfgeschossigen Plattenbauten erkennbar. Von rund 1600 Wohnungen blieben nur 400 übrig – so wurde der Stadtteil aufgewertet.

© Sören Stache/dpa

Großsiedlungen: Das wirft man nicht weg. Das baut man um

Wenn die Moderne im Alltag ankommt, werden Wohngebiete auf der grünen Wiese zu ganz normalen Stadtteilen. Es geht nur darum, sie richtig zu nutzen. Abreißen ist jedenfalls keine Option.

Großsiedlungen waren einmal das Versprechen einer leuchtenden Zukunft! Heute sind sie in den meisten Ländern Europas nicht mehr sonderlich beliebt. Die großen Strukturen gelten als wenig wohnlich, als tristes Schicksal der sozial Benachteiligten. Am besten weg damit!

Aber so einfach geht das nicht. Es ist die schiere Masse, wegen der man nicht auf sie verzichten kann. Also lauten die entscheidenden Fragen: Was können Großsiedlungen für Städte bedeuten? Für wen sind sie wichtig? Wie kann man sie fit machen für eine wie auch immer geartete Zukunft? Diesen Fragen widmet sich noch bis 31. Juli das Festival Raster : Beton in Leipzig-Grünau.

Anstatt nun eine vermeintlich spezielle, auf bestimmte soziale Gruppen zugeschnittene Wohnform zu untersuchen, sei hier behauptet: Großsiedlungen gehören zur normalen Stadt. Es kommt nur darauf an, dass man ihnen diese Normalität nicht verwehrt. Denn damit aus einer Ansammlung von Häusern ein vitales Stadtgebilde werden kann, ist ein historischer Prozess zu absolvieren. Nicht nur Bäume und Sträucher brauchen Jahre, um so lauschig wie auf den Architektenzeichnungen auszusehen; auch unter neuen Nachbarn muss so etwas wie „soziale Substanz“ erst heranreifen, eine neue Generation heranwachsen. Für all das braucht es Zeit.

Die Großsiedlung Leipzig-Grünau feiert ihr 40. Jubiläum. Das wird am 25. und 25. Juni mit einem Symposium gewürdigt.
Die Großsiedlung Leipzig-Grünau feiert ihr 40. Jubiläum. Das wird am 25. und 25. Juni mit einem Symposium gewürdigt.

© Hendrik Schmidt/dpa

Städte sind steingewordene Spiegelbilder ihrer Gesellschaften

Jedes Jahrhundert baut seine Art von Städten. In den mal einfacheren, mal komplexeren Beziehungen zwischen Wohnung, Haus, Straße, Platz und Umland verräumlichen sich funktionale Erfordernisse der jeweils herrschenden Ökonomie und die sozialen Ideen ihrer Erbauer. Wenn aber Städte steingewordene Spiegelbilder ihrer Gesellschaften sind – was geschieht, wenn diese Gesellschaften sich ändern? Kein Grund zur Sorge! Irgendwann wurden alle Städte mal zu eng, zu unpraktisch, schlicht unmodern. Und natürlich war dann Veränderung angesagt. Funktionelle Anpassungen sind unvermeidbar für jede Stadtgeschichte.

Aus dem Zyklus "Erinnerung an eine Zukunft": Bild von Laurent Kronental in der Ausstellung Raster : Beton.
Aus dem Zyklus "Erinnerung an eine Zukunft": Bild von Laurent Kronental in der Ausstellung Raster : Beton.

© Laurent Kronental

Nun haben Großsiedlungen oder gar Stadtneugründungen weltweit stets ein gleiches Grundproblem – den Masterplan. In ihm steckt der Glaube an eine vom Menschen erschaffbare Welt. Diese im Grunde idealistische Idee kann technische Probleme lösen helfen. Aber sie ist untauglich zur Erzeugung von etwas, das als unverzichtbar für städtisches Leben gilt: Atmosphäre. Niemals wird die von den Reißbrettern der Planer kommen, im Gegenteil!

Der atmosphärisch reiche und lebendige, also „urbane“ Stadtraum ist in gewisser Weise der Gegensatz zu dem, was Planung verspricht: umfassende Kontrolle. Früher oder später wird jeder wirklich lebendige Ort von den Plänen und glatten Schaubildern abweichen. Noch die rasanteste Computersimulation kann niemals die ganze Cómedie humaine eines wirklichen Straßenalltags wiedergeben.

Wilmersdorf war eine riesige Großbaustelle am Stadtrand

Großsiedlungen brauchen die Anerkennung ihrer eigenen Geschichtlichkeit. Wer sich allein an deren „lebensferner Künstlichkeit“ abarbeitet, unterstellt dem Ausgangsplan starre Unabänderlichkeit. Dagegen gilt: Auch Gründerzeitviertel, allenthalben Inbegriff der gewachsenen Stadt, wurden ja einst nach Masterplänen auf die grüne Wiese gesetzt. Wilmersdorf etwa, heute als bürgerliches Idealbild präsentiert, war zwischen 1888 und 1905 eine riesige Großbaustelle weit draußen am südwestlichen Stadtrand Berlins. Innerhalb von fünfzehn Jahren wurde dort Wohnraum für 145.000 Menschen aus dem märkischen Sand hochgezogen.

Das sind annähernd gleiche Mengen und zeitliche Umstände wie knapp hundert Jahre später beim Aufbau von Marzahn. Und für Zeitgenossen damals waren Mietskasernen ebenfalls Zeugnisse von Menschenverachtung schlechthin. Wie lange hat es gedauert, bis aus dem urbanistischen Schreckbild ein nostalgisch idealisiertes Stadtmodell werden konnte! Heute können wir uns kein urbaneres Ambiente vorstellen. Aber dann vergleiche man das klägliche Zille-Milieu mit heutigen Wohnansprüchen: Man kann die alten Häuser heute nur lieben, weil sie (und wir) nicht mehr so sind, wie es früher einmal war.

Einer Renaissance der Großsiedlungen sollte eigentlich nichts mehr im Wege stehen

Die U-Bahn war schon fertig, als 1907 die Grundstücke am Reichskanzlerplatz (heute Theodor-Heuss-Platz) vermarktet wurden. Das Viertel entstand also auf der grünen Wiese wie später die Großsiedlungen am Stadtrand.
Die U-Bahn war schon fertig, als 1907 die Grundstücke am Reichskanzlerplatz (heute Theodor-Heuss-Platz) vermarktet wurden. Das Viertel entstand also auf der grünen Wiese wie später die Großsiedlungen am Stadtrand.

© Waldemar Titzenthaler/Nicolaische Verlagsbuchhandlung

Also: Mehr Mut, auch Siedlungen der Moderne können ein Upgrade vertragen! Beton muss kein Baustoff für die Ewigkeit sein. Vormals blinde Küchen und Bäder ans Tageslicht zu bringen, gehört heute zum Modernisierungsalltag. Ob Maisonettes oder Penthäuser mit Dachterrassen entstehen, hängt von zahlungskräftiger Nachfrage ab; bautechnisch sind solche Extras längst Routine. Aufzug, Concierge, altersgerechtes Wohnen – der Phantasie für zeitgemäße Nutzungskonzepte sind keine Grenzen gesetzt.

„Auch Plattenbauten sind irgendwann Altbauten, die man entsprechend behandeln kann.“ Die Ermutigung stammt von Frank Zimmermann, jenem Cottbuser Architekten, der erstmals ein Plattenhochhaus zerlegte und aus den Einzelteilen sechs Stadtvillen baute.

Gefragt sind Kreative, Zwischennutzer, Start-ups

Wenn aber die in Beton errichteten Sozialbausiedlungen sich genauso freizügig umgestalten lassen wie die Ziegelgebirge der Gründerzeit, sollte einem nächsten kulturellen Wertewandel, der Renaissance der Großsiedlungen, eigentlich nichts mehr im Wege stehen.

Ohne spezielle Milieus und Nutzergruppen ist das allerdings nur schwer vorstellbar. Gefragt sind Kreative, Zwischennutzer, Start-ups, die Farbe und Fantasie in die vormals tristen Kulissen bringen. Damit beginnt ja die Normalisierung: Wenn die Idealbilder des Masterplans sich erschöpft haben, bestimmen die wirklichen Verhältnisse, wie es weitergeht. Räume und Flächen werden neu angeeignet, Orte mit neuen Bedeutungen belegt, Wegebeziehungen neu geknüpft, Gewerbe, Agenturen, Ateliers, Praxen und Kanzleien nisten sich ein.

Das wirft man nicht weg. Das baut man um

Die Normalisierung der Planwelten der Moderne – des industriellen Häuser- wie auch des funktionalistischen Städtebaus – ist die nächste ins Haus stehende kulturelle Herausforderung. Wer meint, sich des ungeliebten Phänomens durch Wegsprengen entledigen zu können, hat die Ausmaße dieser Bauepoche vermutlich verdrängt.

Außerdem ginge damit der Blick für die globale Dimension des Problems verloren. Die globale Dimension ist die ökologische. Auch die Bausubstanz der Moderne ist Ressource. Das wirft man nicht weg. Das baut man um, und dann nimmt man es mit in die Zukunft.

Wolfgang Kil

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