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In der Industrie beginnt die neue Tarifrunde : Arbeitgeber legen am Dienstag ein Angebot vor
Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig: Mit ihrem Angebot stellen die Arbeitgeber die Weichen für die weitere Tarifrunde. Warnstreiks sind ab Ende Oktober zu erwarten.
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Auf der Suche nach der richtigen Zahl haben sich die Arbeitgeber in den vergangenen Tage die Karten gelegt. Das Lohnangebot, das sie an diesem Dienstag auf den Verhandlungstisch legen, darf die Firmen in der Krise nicht überfordern und sollte möglichst niedrig sein. Aber auch nicht so niedrig, dass es die Gewerkschaft und ihre Mitglieder auf die Bäume treibt und Streikbereitschaft provoziert. Irgendwo zwischen null und sieben Prozent liegt der passende Wert.
Die IG Metall fordert sieben Prozent mehr Geld für die Beschäftigten und eine Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 170 Euro bei einer Laufzeit des neuen Tarifvertrags von zwölf Monaten. Weitere Punkte im Forderungskatalog sind eine soziale Komponente für die unteren Entgeltgruppen sowie eine Ausweitung der Wahloptionen zwischen Zeit und Geld.
Mitte September begannen in den Regionen die Verhandlungen, doch das war nicht mehr als ein Meinungsaustausch. Zum zweiten Treffen am 15. Oktober legen die Arbeitgeber nun ein Angebot vor. Sie haben aus der Vergangenheit gelernt: Im Herbst 2022 hatte das Zögern und Zaudern der Verbände zu einer Warnstreikwelle mit 900.000 Beteiligten geführt.
Inflationsprämie ist ausgeschöpft
Es wurde ein teurer Abschluss: 5,2 Prozent ab Juni 2023 und weitere 3,3 Prozent ab Mai 2024. Dazu 1500 Euro Inflationsausgleichsprämie 2023 und noch einmal 1500 Euro 2024.

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In diesem Jahr ist alles anders. Die von der Regierung von Steuern und Sozialabgaben befreite Inflationsprämie ist bei 3000 Euro gedeckt und also ausgeschöpft. Und die Industrie, namentlich der Fahrzeug- und Maschinenbau, steckt in einer Krise, die sich von Woche zu Woche zu vertiefen scheint. Schließlich: Auf beiden Seiten sind andere Leute am Start. Baden-Württemberg, wo zumeist die Tarifverträge für die gesamte Industrie ausgehandelt werden, spielt dieses Mal keine Rolle.
In diesem Krisenherbst möchten die Tarifpartner zügig einen Kompromiss erreichen und ein Signal setzen zum Stimmungswandel. „Wir haben nicht den Aufschwung, auf den wir gehofft haben“, räumt Christiane Benner ein. Es ist Benners erster Tarifkonflikt; vor einem Jahr wurde sie an die Spitze der 2,1 Millionen IG Metall-Mitglieder gewählt.
Die Deindustrialisierung ist in der Mitte der Industrie angekommen.
Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der bayerischen Metallarbeitgeber
Schon seit fünf Jahren schwächelt die Industrie. Produktivität und Produktion schrumpfen, und inzwischen verschwinden auch Arbeitsplätze. „Die Deindustrialisierung ist in der Mitte der Industrie angekommen“, sagt Bertram Brossardt, seit fast 20 Jahren Hauptgeschäftsführer der bayerischen Arbeitgeber.
Brossardt, als harter Knochen berüchtigt, aber kurz vor seinem 65. Geburtstag „altersmilde“ geworden, wie man in der IG Metall sagt, hat Gewicht im Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Und er spielt in diesem Herbst eine Schlüsselrolle.
Brossardt lobt die neue Führung der Gewerkschaft („finde ich cool“) und distanziert sich von den baden-württembergischen Arbeitgebern, denen es besonders schlecht geht und die eine Nullrunde gefordert haben („aus bayerischem Mund hören Sie nichts von einer Nullrunde“), was Benner „respektlos“ findet und Brossardt für einen taktischen Fehler hält.
Die Arbeitgeber sind angetan von Benners moderatem, pragmatischem Ton und der Verständigungsbereitschaft. Benners Vorgänger Jörg Hofmann war ein baden-württembergisches Schwergewicht, das sich im Tarifpoker von niemanden über den Tisch ziehen ließ. Dass er der schlaueste Spieler war, ließ Hofmann gerne die anderen wissen.
„Es geht um Kohle, Kohle und noch einmal Kohle“, fasst Bayernfunktionär Brossardt den Verteilungskonflikt zusammen. Da die IG Metall zügig zu einer Lösung kommen wolle, „kriegen wir das in einem ordentlichen Stil hin“. Ein paar Warnstreiks werden Brossardts Stilempfinden nicht wirklich stören. Etwas Tamtam auf der Straße gehört zum Tarifgeschäft wie das Untergangsgeheul mancher Arbeitgeber.
Streiks ab Ende Oktober
Bereits Ende September ist der Tarifvertrag aus dem Herbst 2022 abgelaufen, am 28. Oktober endet die Friedenspflicht, sodass am frühen Morgen des 29. mit ersten Streikaktionen zu rechnen ist. Das braucht die IG Metall zur Selbstverständigung und die Gewerkschaftsmitglieder pflegen so ihr Selbstbewusstsein: Ohne die Bereitschaft zum Konflikt wären Tarifverhandlungen „kollektives Betteln“, wie die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi sagt.

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Ein Arbeitskampf in der Rezession ist ausgeschlossen. Zumal die Strukturkrise die Konjunkturkrise verstärkt: Die digitale Transformation zu einer klimaneutralen Produktion stockt, die Industrie hadert mit den Standortbedingungen. Immerhin funktioniert die Sozial- und Tarifpartnerschaft in der Metallindustrie.
Traumpaar der Tarifpartner
Brossardts sanfte Töne aus Bayern begleiten das neue Traumpaar der Tarifpartner: Lena Ströbele, Personalchefin der Werftengruppe Naval Vessels Lürssen in Bremen, führt die Verhandlungen für die Arbeitgeber an der Küste. Ströbele versteht sich gut mit Daniel Friedrich, dem Bezirksleiter der IG Metall im Norden.
Ströbele und Friedrich informieren beide am Dienstagmittag über das Angebot der Arbeitgeber sowie die Bewertung der IG Metall. Das ist ungewöhnlich und unterstreicht das gemeinsame Interesse an einer friedlichen und möglichst kurzen Auseinandersetzung. Dazu bedarf es eines fairen Interessenausgleichs.
Mitte November soll der Kompromiss stehen
Zu Beginn der Laufzeit des neuen Tarifs möchten die Arbeitgeber „nur“ einen einmaligen Betrag zahlen, und dann möglichst spät im Jahr 2025 eine dauerhafte prozentuale Erhöhung der Entgelte folgen lassen. Für Betriebe in Not hätte Ströbele gerne Abweichungsmöglichkeiten, etwa bei der Höhe der Sonderzahlungen, oder dem Zeitpunkt der Lohnerhöhung. Friedrich wiederum möchte für den Fall auch eine Abweichung nach oben: Besonders profitable Betriebe sollen mehr zahlen.
Das Küsten-Duo möchte unbedingt den Kompromiss finden – und darf das auch: In den eigenen Reihen haben sie Prokura für einen Pilotabschluss, der in der ganzen Republik angewendet wird. Das ist sehr ungewöhnlich, denn die Metallindustrie hat im Norden nicht annähernd die Bedeutung wie im Süden.
Damit die Jungspunde – Ströbele ist Anfang, Friedrich Ende vierzig – auch sicher im Tarifhafen landen, begleiten alte Haudegen wie Brossardt und der nordrhein-westfälische IG Metall-Chef Knut Giesler die Gespräche. Das erhöht die Akzeptanz in den eigenen Reihen für den Abschluss, den sich Ströbele und Friedrich für Mitte November vorgenommen haben.
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