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Ein Stahlarbeiter im Schutzanzug an einem Hochofen in Duisburg (Archivbild von 2019).

© Imago/Rupert Oberhäuser

Krisentreffen mit Klingbeil und Reiche: Die Stahlindustrie dringt auf Hilfe

Die IG Metall schlägt Alarm. Stahlunternehmen schrumpfen, Überkapazitäten, Billigimporte und Energiepreise gefährden die Branche. Nun laufen die Vorbereitungen für einen Stahlgipfel mit dem Kanzler.

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Russland ist Teil des Problems. Im vergangenen Jahr lieferten russische Unternehmen 3,5 Millionen Tonnen Stahl nach Deutschland.

„Das Hauptproblem der europäischen Stahlindustrie sind Billigimporte und hohe Strompreise“, konstatiert Jörg Köhlinger, Leiter des IG Metall-Bezirks Mitte, zu dem Hessen und Rheinland-Pfalz, das Saarland und Thüringen gehören. Seine Schlussfolgerung: „Wir brauchen Schutzmaßnahmen gegen Billigimporte.“

Anfang Oktober erläutern Gewerkschafter und Manager ihre Analysen und Handlungsempfehlungen den Ministern Lars Klingbeil (Finanzen, SPD) und Katharina Reiche (Wirtschaft, CDU). Das Treffen dient der Vorbereitung eines Stahlgipfels, den Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) angekündigt hat.

Einen solchen Gipfel gab es auch schon mit der Ampel-Regierung. „Wir werden gehört, aber wir vermissen Taten“, heißt es beim Branchenführer Thyssen-Krupp.

„In einigen Fällen geht es ums Überleben“, beschreibt Köhlinger im Gespräch mit dem Tagesspiegel die Situation. Der Gewerkschafter ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Stahl-Holding-Saar (SHS), zu der die Unternehmen Dillinger und Saarstahl mit 12.000 Mitarbeitenden gehören. „Die saarländische Stahlindustrie ist auch wegen der Stiftungskonstruktion, die der Stärkung der Stahlindustrie im Saarland verpflichtet ist, in einer relativ guten Situation“, sagt Köhlinger.

Anders als Marktführer Thyssen-Krupp Steel (TKS), der seit fünf Jahren Verluste schreibt, Kapazitäten und Arbeitsplätze reduziert und aus dem Konzernverbund der Thyssen-Krupp AG herausgelöst werden soll. Die indische Jindal Steel hat kürzlich ein Übernahmeangebot vorgelegt. TKS plant den Abbau von bis zu 11.000 Arbeitsplätzen und möchte künftig nur noch neun statt 11,5 Millionen Tonnen Stahl im Jahr produzieren. Es gibt viel zu viele Stahlfabriken.

700
Millionen Tonnen Stahl machen die weltweiten Überkapazitäten aus.

Weltweit werden die Überkapazitäten auf rund 700 Millionen Tonnen geschätzt. Vor allem China, Indien und die USA bauen neue Stahlanlagen und flankieren die Investitionen mit Zöllen und Subventionen. In der EU dagegen wurden 2024 rund neun Millionen Tonnen Produktion stillgelegt. Trotzdem sind die Kapazitäten der europäischen Werke nur zu knapp zwei Dritteln ausgelastet.

Gleichzeitig importierte die EU im vergangenen Jahr 30 Millionen Tonnen Stahl, das entspricht 28 Prozent des EU-Verbrauchs, aus der Türkei, Südkorea und Indien, Vietnam, Taiwan und China. Vor einem möglichen Handelsabkommen mit Indien, das die EU-Kommission anstrebt, graust den europäischen Stahlkochern. Mehr Protektionismus sei das Gebot der Stunde.

Einfuhrzölle zum Schutz der EU-Industrie

Die Industrie möchte von Brüssel eine Halbierung der zollfreien Importquoten sowie einen 50-prozentigen Zoll auf darüber hinausgehende Einfuhren; 50 Prozent verlangen auch die USA. Elf EU-Staaten unterstützen den Vorschlag, doch Deutschland, der größte Stahlproduzent in der EU, gehört nicht dazu. Offenbar hat die Autoindustrie, die vom billigen Stahl profitiert, erfolgreich lobbyiert. Dabei würden die vorgeschlagenen Zölle die Kosten für ein Auto nur um 50 Euro erhöhen, argumentieren die Stahlhersteller.

Die Branche plädiert ferner für einen wirksamen CO₂-Grenzausgleich (CBAM). Damit soll verhindert werden, dass „schmutziger“ Stahl nach Europa eingeführt wird, während die Europäer ihren teuren „grünen“ Stahl nicht loswerden.

Im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung der Branche, die zu den größten industriellen CO₂-Emittenten gehört, plädiert Thyssen-Krupp für eine Aufweichung des Europäischen Emissionshandelssystems (ETS). ETS-Zertifikate sollten länger als bislang vorgesehen zugeteilt werden.

Das ist das größte Projekt für grünen Stahl in Europa. Ohne diese Entscheidung stünden wir aufgrund der CO₂-Bepreisung in ein paar Jahren vor dem sicheren Tod.

Jörg Köhlinger, IG Metall, über die Dekarbonisierung der saarländischen Stahlindustrie

Das ist auch in den eigenen Reihen umstritten. „Die saarländische Stahlindustrie stellt ausdrücklich nicht den CO₂-Zertifikatehandel infrage“, sagt Jörg Köhlinger. 4,6 Milliarden Euro würden in die klimaneutrale Produktion von Dillinger und Saarstahl investiert.

„Das ist das größte Projekt für grünen Stahl in Europa. Ohne diese Entscheidung stünden wir aufgrund der CO₂-Bepreisung in ein paar Jahren vor dem sicheren Tod“, sagte der Gewerkschafter dem Tagesspiegel. Unternehmen und Betriebsräte, Politik und IG Metall hätten sich „dafür richtig ins Zeug gelegt“.

Weitgehend geschlossen steht die Branche hinter den Forderungen nach einem Industriestrompreis sowie Local-Content-Maßnahmen: Wertschöpfung in der EU fördern, um Industrie in der EU zu halten. Andernfalls könnte ein Teil des staatlichen Sondervermögens für Infrastruktur „zu einem Konjunkturprogramm für hoch subventionierten chinesischen Stahl“ werden, argumentiert Thyssen-Krupp.

„Local Content sollte im Kern der europäischen Industriepolitik stehen“, findet auch Köhlinger. Gewerkschafter und Manager hoffen auf Friedrich Merz und verbindliche Gipfelbeschlüsse im Oktober.

Tarifverhandlungen über sichere Arbeitsplätze

In der eigenen Hand haben die Unternehmen die Arbeitskosten. Vergangene Woche begannen die Tarifverhandlungen, in denen es ausnahmsweise (fast) nicht um Geld geht, sondern um sichere Arbeitsplätze und konstante Ausbildung. Die IG Metall möchte jedoch die Kaufkraft ihrer Leute sichern, also eine prozentuale Erhöhung der Löhne ähnlich der Inflationsrate.

Es gebe „keine verteilungsfähige Masse“ angesichts des „anhaltenden Substanzverzehrs der Stahlindustrie“, argumentieren die Arbeitgeber. Tatsächlich geht es seit Langem abwärts, und im bisherigen Jahresverlauf fiel das Produktionsvolumen der deutschen Stahlkocher um weitere zwölf Prozent.

Kommende Woche setzen Gewerkschaft und Arbeitgeber die Verhandlungen fort. Die IG Metall droht mit Warnstreiks ab Oktober, doch die sollen eigentlich vermieden werden. Denn mit einem vernünftigen Tarifkompromiss könnten sich die Tarifpartner auf den Stahlgipfel konzentrieren und an die Politik appellieren: Wir haben geliefert, jetzt seid ihr dran.

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