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Bayer-Anlage in Ingolstadt: Die hohen Energiepreise machten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine den Chemiebetrieben schwer zu schaffen.

© imago/Peter Widmann

Tarifkonflikte in der Industrie: IG Metall will mehr Wahlmöglichkeiten zwischen Zeit und Geld

Für rund 4,5 Millionen Beschäftigte in den wichtigsten Industriebereichen wird über mehr Geld und flexiblere Arbeitszeit verhandelt. IG BCE will Bonus für Mitglieder.

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In der Industrie kommen die diesjährigen Tarifkonflikte in die (vor-)entscheidende Phase. Am Dienstag und Mittwoch verhandeln Arbeitgeber und Gewerkschaft der chemischen Industrie über die Einkommen von knapp 600.000 Beschäftigten. Und die IG Metall bereitet in diesen Tagen die Tarifforderung für knapp vier Millionen Mitarbeitende im größten deutschen Industriebereich vor.

Anders als in manchen Dienstleistungsbranchen spielt die Dauer der Arbeitszeit in der Industrie keine Rolle. Die IG Metall möchte aber mehr Wahlmöglichkeiten, damit sich Beschäftigte zwischen Freizeit und Geld entscheiden können. Das hatten die Metaller bereits 2018 für Schichtarbeiter sowie Beschäftigte mit kleinen Kindern und zu pflegenden Angehörigen durchgesetzt. Der Kreis der Arbeitnehmer mit Wahloption soll in den anstehenden Verhandlungen größer gezogen werden.

Weite Teile der Industrie stagnieren seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Dass die schwache Konjunktur das verarbeitende Gewerbe stärker als die Dienstleister belastet, ist auch ablesbar an der Tarifforderung der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) in Höhe von sieben Prozent. Dagegen lagen die Ansprüche der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi oder der Lokführer in den vergangenen Monaten im zweistelligen Prozentbereich.

„Grundsätzlich hat sich das tarifpolitische Zentrum stärker in den Dienstleistungsbereich verlagert“, findet Verdi-Chef Frank Werneke und erklärt das damit, „dass die Beschäftigten im Dienstleistungssektor ein neues Selbstbewusstsein entwickelt haben, was wiederum auch mit der verbesserten Situation auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängt“. Ob im Pflegebereich oder im Service an den Flughäfen, in der Gastronomie oder im Handwerk – überall werden Arbeitskräfte gesucht.

48
Prozent stiegen die Tarifeinkommen der Chemiebeschäftigten in den vergangenen 15 Jahren.

Von den 1700 Chemiefirmen lässt sich das nicht sagen. Nach Angaben der Arbeitgeber ist das Vorkriegsniveau von Anfang 2022 noch lange nicht erreicht, bezogen auf Auftragslage, Erlöse und Produktivität. Und da es in diesem Jahr bereits eine Gehaltserhöhung gegeben hat, wünscht sich der Bundesverband der chemischen Industrie (BAVC) eine erneute Erhöhung der Tarifeinkommen erst 2025. Zumal, so die Argumentation der Arbeitgeber, in den vergangenen 15 Jahren die Tarifeinkommen der Chemiebeschäftigten um 48 Prozent gestiegen seien, die Verbraucherpreise aber „nur“ um 37 Prozent.

Den aktuellen Tarifvertrag, der im Juni ausläuft, schlossen die Tarifpartner im Oktober 2022: Jeweils im Januar 2023 und 2024 erhöhten sich die Entgelte um 3,25 Prozent, dazu bekamen die Beschäftigten in zwei Tranchen die steuer- und abgabenfreie Inflationsprämie von 3000 Euro.

Bonus für Gewerkschafter gefordert

Die IG BCE sieht die aktuelle Lage ganz anders als der Arbeitgeberverband: Das Geschäftsklima sei so gut wie Anfang 2022, die Chemiekonjunktur erhole sich und ziehe sogar als Lokomotive die gesamte Industrie nach oben. Jeder dritte Betrieb fahre derzeit Überstunden, während drei Viertel der Beschäftigten sich aufgrund der Inflationsrate einschränken müssten. Kurzum: Die Chemiebeschäftigten erwarteten mehr Geld.

Und die Gewerkschaftsmitglieder sowieso. Die IG BCE möchte für ihre Leute einen Bonus im Tarifvertrag durchsetzen. Nach Angaben der Gewerkschaft, die seit Jahren gegen den Mitgliederschwund kämpft, gibt es entsprechende Verabredungen inzwischen vor allem in gut 160 Haustarifverträgen für rund 120.000 IG BCE-Mitglieder. Bei RWE zum Beispiel setzte die Gewerkschaft eine stufenweise Entgelterhöhung um 8,8 Prozent durch sowie eine „monatliche Sonderleistung für Gewerkschaftsmitglieder in Höhe von 100 Euro“. Für ihre Mitglieder in der Belegschaft der ostdeutschen Leag erreichte die IG BCE eine Extrazahlung von 1500 Euro.

Im Flächentarif für die gesamte Chemie- und Pharmaindustrie schlägt die Gewerkschaft aktuell einen Gesundheitsbonus für ihre Mitglieder vor, mit dem zum Beispiel Zahnersatz oder Brillen, die nicht komplett von den Krankenkassen gezahlt werden, finanziert werden sollten. Als Richtgröße für den Bonus nennt die IG BCE die Höhe des Mitgliedsbeitrags, der ein Prozent des Bruttolohns ausmacht.

Die Arbeitgeber lehnen das als „Spaltung der Belegschaft“ ab und argumentieren mit einem Prinzip, das normalerweise Gewerkschaften hochhalten: gleiches Geld für gleiche Arbeit. Da schätzungsweise 200.000 Beschäftigte in der Chemie zur IG BCE gehören, sei die Umsetzung eines Mitgliederprivilegs mit hohem Aufwand und viel Bürokratie verbunden. Und für das gemeinsame Ziel der Tarifpartner, die Tarifbindungen zu erhöhen, sei ein Mitgliederbonus kontraproduktiv, da vermutlich Unternehmen den Verband verlassen und sozusagen aus der Tarifbindung fliehen würden.

Für den (wahrscheinlichen) Fall, dass in den kommenden Tagen kein Tarifkompromiss gefunden wird, haben die Tarifparteien weitere Verhandlungen für den 26. und 27. Juni vereinbart. Ende Juni läuft die Friedenspflicht aus, dann sind Streiks möglich. Doch diese Zuspitzung wollen beide Seiten vermeiden, Arbeitskämpfe sind in der Chemie verpönt.

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