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Politisches Bewusstsein schaffen. Auch Geschlecht hat eine Geschichte. Für Schülerinnen und Schüler ist das eine überraschende Einsicht. In Kleingruppen können sie im Geschichtsunterricht die Chronologie von Ereignissen erarbeiten: vom Wahlrecht für Frauen bis zum Inzesturteil des Bundesverfassungsgerichts.

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Serie: Gender in der Forschung (7): Anders zu sein war immer normal

Handelnde und leidende Menschen: Warum Geschlechtergeschichten in den Geschichtsunterricht gehören.

Gender – auch ein Thema für den Geschichtsunterricht? Als die Länder Berlin und Brandenburg im vergangenen Jahr ihren Entwurf für einen neuen Rahmenlehrplan Geschichte zur Diskussion stellten, war der Widerstand groß, auch gegen die ausdrückliche Verankerung des Themas Gender im Geschichtsunterricht. In einer lauten Kampagne, an der sich neben dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands auch die Berliner CDU beteiligte, warnte der Landesfachausschuss Bildung der Partei, die neuen curricularen Vorgaben setzten „willkürliche politische Festlegungen (Beispiel im Fach Geschichte: Längsschnitt Geschlechteridentitäten)“, dies widerspräche dem „Aufbau eines soliden, strukturierten (vertieften) Wissens“ im Unterrichtsfach Geschichte. Gender im Geschichtsunterricht also als politische Willkür und als Gefahr für die solide historische Bildung junger Menschen?

Frauengeschichte wird immer noch mit Geschlechtergeschichte gleichgesetzt

Immerhin: Die Vergangenheit ist geradezu bevölkert von Geschichten über Geschlechterverhältnisse und über geschlechtliche Vielfalt – der Geschichtsunterricht hat diese Geschichten bisher jedoch kaum entdeckt. Wenn überhaupt, dann wird Schülerinnen und Schülern vielleicht vom Kampf um das Frauenwahlrecht im 19. und 20. Jahrhundert berichtet, hier und da geht es um Hexenverbrennungen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Ohne Frage wichtige Themen, aber meist ‚nur‘ reine Frauengeschichte, die fast immer noch selbstredend mit Geschlechtergeschichte gleichgesetzt wird.

Aber selbst gegen eine solche additive Frauengeschichte, die die Geschichten einzelner Frauen einfach nur zur konventionellen Geschichtserzählung hinzufügt (ein Ansatz übrigens, der in der fachhistorischen Forschung spätestens seit den 1990er Jahren als altmodisch gilt), regt sich offenbar Widerstand. Hier lohnt sich ein Blick auf den Entwurf sogenannter „nationaler Bildungsstandards“ des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands, den der Verband auf dem Historikertag in Berlin im Herbst 2010 präsentiert hat.

Als einzige Frau findet Sophie Scholl Erwähnung

So tauchen als handelnde Akteure im Entwurf ausschließlich Männer auf (von Homer bis Wolf Biermann), nur Sophie Scholl findet als einzige Frau Erwähnung. Ihr wird jedoch sogleich der große Bruder Hans an die Seite gestellt – additive Frauengeschichte also auf Minimalniveau. Exemplarisch könne jedoch, so dieser Verbandsentwurf, am Thema „Frauen, Juden, Protestanten“ zu Menschen- und Bürgerrechten historisch gelernt werden. Während hier also Frauen explizit in die Sphäre des nur Additiven gedrängt werden, erscheinen Männer selbstredend als personalisierte Akteure der Geschichte. Hier wird Geschichte als reine „his-story“ geschrieben, ohne diesen Umstand überhaupt zu problematisieren. Andere Erzählungen – etwa über sexuelle Emanzipationsbewegungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, über Transvestismus, Intersexualität oder die ersten medizinischen Operationen zur Geschlechtsumwandlung, also all das, was über die Vielfalt von Geschlecht in der Geschichte bekannt ist, ist aus dem Kanon historischen Wissens in der Schule verbannt. Ob dahinter eine bewusste Strategie steckt oder eher Unwissen – das freilich ist schwer zu sagen.

Geschlechtliche Identitäten waren in der Vergangenheit anders

Theoretischer Referenzpunkt für ein solches Vorhaben können die Gender Studies sein. Sie gehen davon aus, dass geschlechtliche Identitäten in komplexen und vielschichtigen Prozessen erst hervorgebracht werden – von handelnden und leidenden Menschen in Vergangenheit und Gegenwart. Insbesondere historisches Lernen bietet hier nun die Möglichkeit, solche vielschichtigen Prozesse kennenzulernen, geht es bei historischem Lernen doch immer auch darum, sich vergangene Wirklichkeiten als die eigene Vorgeschichte anzueignen und sich selbst als gewordener, ‚historischer‘ Mensch zu begreifen.

Dabei kann ein historisch lernender Blick zweierlei sichtbar werden lassen, zum einen: Identitäten waren in der Vergangenheit anders als heute. Sie wurden auf andere Weise konstruiert, spielten für die Menschen der Vergangenheit in ihrer Alltagspraxis eine andere Rolle als heute und waren auf andere Weise konfliktträchtig als in unserer Gegenwart. Die Hausfrau der 1950er und 1960er Jahre übernahm in der alten Bundesrepublik ganz andere private und gesellschaftliche Funktionen als etwa noch die (groß)bürgerliche Ehefrau des späten 19. Jahrhunderts, kaum zu vergleichen mit verheirateten Arbeiterinnen in den 1920er Jahren oder mit erwerbstätigen Frauen in der DDR.

Anderssein als Normalität begreifen

Wenn wir uns mit ihnen als Teil der Vergangenheit beschäftigen, erfahren wir also, dass sie in der Vergangenheit anders gedacht und anders gemacht wurden als heute. Das Erfahren von solcher historischen Alterität eröffnet den Lernenden den Erfahrungsraum, dass auch heutige geschlechtliche Identitäten nicht alternativlos sind, weil es in der Vergangenheit zu ihnen bereits Alternativen gab. Mal ging es bunter und mal grauer zu als heute, aber eben nie genau so wie jetzt.

Neben dem Erfahren einer solchen Alterität von Geschlecht, die das Anders-Sein als etwas historisch Normales zu erkennen gibt, können Lernende jedoch auch die Historizität, also die grundsätzliche Wandelbarkeit von Konzepten über Sexualität und Geschlecht kennenlernen. In den 1920er Jahren wurde den sogenannten Transvestiten, also jenen, die das Bedürfnis hatten, die Kleidung des jeweils anderen Geschlechts zu tragen, der Kleidertausch erstmals in der Öffentlichkeit gestattet – unter der Voraussetzung, dass die Öffentlichkeit diesen vermeintlichen Geschlechterschwindel nicht bemerkte: Erst dann stellte die Polizei einen sogenannten „Transvestitenschein“ aus. Ein solcher Kleidertausch ließ erst allmählich ein Nachdenken darüber zu, ob das Geschlecht auch medizinisch und operativ verändert werden kann und darf – und führte 1930/31 bei der mittlerweile historisch berühmten Lili Elbe (1892–1931) zu ersten gut dokumentieren geschlechtsangleichenden Operation. Ein eigenes „Transsexuellengesetz“ ließ in Deutschland jedoch noch mehr 50 Jahre auf sich warten und trat erst 1981 in Kraft.

Vorstellungen von Geschlecht sind änderbar

Lernende können etwa anhand der Geschichte von Transsexualität erfahren, dass die Dinge einst anders waren. Sie lernen zudem, en detail die Prozesse nachzuzeichnen, durch die sich Wandel vollzog. Sie erfahren auf diese Weise, dass es handelnde und leidende Menschen der Vergangenheit waren, die daran mitgewirkt haben, dass sich Vorstellungen von Geschlecht geändert haben – und auch, dass solche Vorstellungen grundsätzlich änderbar sind. Und wer weiß, vielleicht haben sie dann auch Lust, in unserer Gegenwart an solchen Änderungen mitzuwirken. Dann freilich wäre die Integration von Gender in den Geschichtsunterricht ein politisches Projekt und würde politisches Bewusstsein auch in der Gegenwart schaffen, jedoch auf Grundlage von soliden historischen Erkenntnissen über die Vielfalt der Vergangenheit.

Berlin hat das Lernportal queerhistory.de

Um konkrete Angebote für einen Geschichtsunterricht zum Thema Gender anzubieten, ist in Berlin das Lernportal queerhistory.de entstanden, auf dem mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Bildung unterschiedliche Lernangebote bereitstehen. Für Schülerinnen und Schüler ist es aber zunächst eine grundlegend überraschende Idee, dass auch Geschlecht eine Geschichte hat – und zwar eine Geschichte, die auch im Geschichtsunterricht gelehrt und gelernt werden kann. Zum Einstieg in die Lernmodule wurde deshalb ein Einführungsmodul unter dem Titel „Eine kleine Geschichte zu Sexualität und Geschlecht“ entwickelt. Dazu wurden 22 ganz unterschiedliche Ereignisse oder Kurzbeschreibungen zeitgenössischer Geschlechter-Zustände ausgewählt, die eine ganze Bandbreite dessen abdecken, was im Bereich von Geschlechterverhältnissen und Sexualität im Wandel der Zeit zu beobachten ist – von der Bestrafung gleichgeschlechtlich begehrender Menschen (Frauen wie Männer) mit dem Feuertod in der Frühen Neuzeit bis hin zur Formierung der ersten Homosexuellenbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, von der Durchsetzung des Wahlrechts für Frauen 1918/19 bis hin zum Verbot der Vergewaltigung von Frauen in der Ehe in den 1990er Jahren.

Schülerinnen und Schüler sollen Ereigniskarten in eine Chronologie bringen

Den Schülerinnen und Schülern wird – in Gruppen von 10 bis 12 Teilnehmenden – ein Set von Karten ausgeteilt, auf denen die richtigen Jahreszahlen der Ereignisse fehlen. Sie werden nun aufgefordert, diese 22 Ereigniskarten in eine richtige chronologische Reihenfolge zu sortieren. Dabei werden ihnen einige Ereignisse begegnen, die völlig neu für sie sind (etwa das sogenannte Inzesturteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008), andere werden sie fast mühelos richtig terminieren können (etwa die Verschleppung schwuler Männer in Konzentrationslager). Dabei sollen sie über die vermutete richtige Reihenfolge der Ereignisse diskutieren und jeweils benennen, zu welchen Ereignissen sie bereits etwas wissen, zu welchen nicht. Höchstwahrscheinlich erarbeiten sie dabei also eine Chronologie, die nicht die richtige historische Reihenfolge dieser Ereignisse abbildet.

Auf diese Weise kann jedoch deutlich werden, dass es innerhalb einer Lerngruppe unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was im Laufe der Zeit einem Wandel unterlegen war und was nicht, und was im tiefen Dunkel der Geschichte vermutet wird.

Geschlechtergeschichten im Geschichtsunterricht können also bestehende Geschichtsbilder irritieren und über ein Nachdenken über Geschichte anregen, das sich jenseits der ausgetreten Pfade einer fast nie gebrochenen his-story bewegt.

Der Autor ist Professor für Didaktik der Geschichte an der FU Berlin. -  Die bereits erschienenen Teile der Serie "Gender in der Forschung" finden Sie hier:

Teil 1 -"Keine Angst vorm bösen Gender" (von Ilse Lenz), Teil 2 - "Auch das Biologische ist sozial" (von Kerstin Palm), Teil 3 - "Lernen, wie man Grenzen zieht" (von Heinz-Jürgen Voß), Teil 4 - "Riskante Ideale von Männlichkeit" (von Ahmet Toprak), Teil 5 - "Der moderne Mann sucht - sich selbst" (von Michael Meuser), Teil 6 - "Philosophieren über Gender" (von Susanne Lettow).

Martin Lücke

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