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Ob ein Kind später Schwierigkeiten beim Lesen hat, könnte schon im Kindergartenalter festgestellt werden.

© lordn/Fotolia

Forschung zu Dyslexie: Bevor Lesen zur Last wird

Wissenschaftler wollen Anzeichen für Dyslexie schon bei Vorschulkindern identifizieren.

Guck mal, das ist dein Gehirn!“ Johanna Liebig zeigt auf den Bildschirm. Grau in Grau zeigt es Querschnittsbilder eines Gehirns, von oben, von der Seite und von hinten. Das Gehirn gehört Virginia, fünf Jahre alt, die gespannt zuhört, während Johanna Liebig ihr die Bilder zeigt. Virginia ist mittendrin in der Grundlagenforschung zur Leseschwäche. LEXI-Studie heißt das Forschungsvorhaben, bei dem Wissenschaftler der Freien Universität Kinder im Vorschulalter untersuchen. Für das umfangreiche Projekt kooperieren sie mit vier weiteren Forschungsinstitutionen. Das Ziel ist, möglichst früh Anzeichen einer Leseschwäche bei Kindern zu erkennen.

Virginia kann noch gar nicht lesen. Sie wird im Sommer eingeschult. Dann wird sie lesen lernen – wenn sie nicht zu den 5 bis 17 Prozent der Menschen gehört, die damit erhebliche Schwierigkeiten haben. Leseschwäche, oder Dyslexie, hat mit Intelligenz oder Fleiß nichts zu tun. Sie tritt oft gemeinsam mit einer Rechtschreibschwäche auf und ist auch unter dem Begriff Legasthenie bekannt. Die Auswirkungen der Dyslexie auf das Leben der Betroffenen sind enorm.

Das weiß auch der Leseforscher Arthur Jacobs, der den Projektverbund leitet. Er ist Professor für Psychologie an der Freien Universität und forscht seit mehr als zwei Jahrzehnten zu dem Thema. Ein fünfbuchstabiges Wort, das die meisten mit einem Blick erfassen, stelle für ein dyslektisches Kind eine Herausforderung dar. „Man kann im Extremfall beobachten, wie die Augen um die Buchstaben kreisen“, erzählt Jacobs. Das sei für die Augenmuskeln nach einer Weile ganz schön anstrengend. „Wenn die Kinder schon nach einer Seite in einem Harry-Potter-Band die Ermüdung spüren, kommen sie gar nicht in den Genuss vergnüglichen Lesens.“ Das sei nicht nur ein Problem im Deutschunterricht. Auch Mathematikaufgaben würden oft in Textform gestellt.

Die Forscher testen sogenannte Vorläufer-Fähigkeiten

Dyslexie ist nicht heilbar, man kann betroffene Kinder aber gezielt fördern und unterstützen. Dafür ist es wichtig, die Schwäche möglichst früh zu erkennen. Doch eine wirksame Früherkennung vor der Schule ist derzeit in der Praxis noch nicht möglich. „Dyslexie-Früherkennung sollte man nicht erst in der Schule betreiben, das ist für die Betroffenen zu spät“, sagt Jacobs. „Das Thema gehört in die Kindertagesstätten.“

Genau hier hilft Virginia der Wissenschaft. Auf spielerische Weise erledigt sie kleine Aufgaben, bei denen sie Wörter und Silben nachspricht oder reimt. Die Forscher testen sogenannte Vorläufer-Fähigkeiten, die mit dem Lesen zusammenhängen. „Wenn man den Kindern sagt: ,Nehmt von dem Wort Tisch den ersten Laut weg!’ – dann sagen neun von zehn Kindern ‚isch', aber eines druckst herum“, erklärt Arthur Jacobs.

Was für Virginia ein Spiel ist, liefert Forschern wie Johanna Liebig wichtige Erkenntnisse. Sie arbeitet an einer Doktorarbeit über die Leseentwicklung bei Kindern und jungen Erwachsenen. Das Forschungsprojekt soll umgekehrt auch bei den Kindern das Interesse an Wissenschaft wecken. Bei Virginia scheint das geklappt zu haben. „Virginia erzählt ihren Freunden, was sie gemacht hat“, berichtet ihre Mutter. „Sie fühlt sich wie in einem Raumschiff. Zu Hause spielt sie mit ihrer Schwester schon MRT.“ MRT steht für Magnetresonanztomograf und ist das wichtigste Messinstrument in der Studie. Das wuchtige Gerät ermöglicht ohne schädliche Strahlung einen Blick in das Innere des Gehirns. Johanna Liebig kann beobachten, welche Regionen in Virginias Gehirn aktiv werden, während das Mädchen über eine Videobrille Bilder von Häusern und Gesichtern sieht.

Der MRT-Scan zeigt, welche Gehirnregionen beim Anschauen von Schrift oder Bildern aktiv sind.
Der MRT-Scan zeigt, welche Gehirnregionen beim Anschauen von Schrift oder Bildern aktiv sind.

© Jonas Huggins

Auch Wörter werden ihr gezeigt, obwohl sie noch nicht lesen kann. Hintergrund für diesen Test sind Studien, die zeigen, dass bei dyslektischen Kindern die Betrachtung von Schrift weniger Aktivität in bestimmten Hirnregionen auslöst als bei Kindern, die unauffällig lesen. Die Frage ist, ob dieser Unterschied schon vorhanden ist, bevor die Kinder lesen können. Die Wissenschaftler betrachten die Entstehung der Dyslexie aus vielen Blickwinkeln. Zwar gelte es als gesichert, dass das Erbgut eine wichtige Rolle spielt. „Aber ,überspitzt gesagt, gibt es für jede Studie, die ein bestimmtes Gen verantwortlich macht, eine andere, die ihr widerspricht und ein anderes Gen identifiziert“, erklärt Eva Fröhlich, die ebenfalls zu dem Thema promoviert.

Die vielen Blickwinkel erfordern ein hohes Maß an Kooperation

Sie und ihre Kollegen wollen darum mehrdimensional vorgehen. Sie kombinieren die Ergebnisse aus den leserelevanten Verhaltenstests, die Virginia und die anderen Kinder machen, mit denen von Intelligenz- und Aufmerksamkeitstests. Hinzu kommen die Auswertungen der MRT-Bilder und des Erbguts, das mithilfe einer Speichelprobe gewonnen wird. Die vielen Blickwinkel erfordern ein hohes Maß an Kooperation. Unter anderem sind ein Molekulargenetiker aus Lübeck, ein Dyslexie-Experte aus Marseille, ein Entwicklungspsychologe des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und weitere Neurowissenschaftler aus Berlin und Salzburg an dem Projekt beteiligt.

Nach einer guten Stunde hat Virginia alle Aufgaben bewältigt. Stolz erhält sie einen Stempel auf ihren Forscherausweis. Alle Daten sind gesammelt, doch sie wird wiederkommen: Sobald sie lesen gelernt hat, werden einige Tests wiederholt. Ob die Studie dazu führen wird, dass es in Zukunft eine flächendeckende Früherkennung von Dyslexie geben wird, bleibt offen. Arthur Jacobs betont, dies wäre unter Beteiligung der Kindertagesstätten relativ einfach und kostengünstig zu realisieren, aber politisch schwer durchzusetzen, weil die Bildungspolitik in Deutschland Ländersache ist. „Die Forschung ist nur der erste Schritt“, sagt er. „Damit sie den dyslektischen Kindern tatsächlich hilft, brauchen wir die Politik.“

Kinder im Alter von fünf bis sechs Jahren, die im Sommer 2016 eingeschult werden, können an der Studie teilnehmen. Sie erhalten bei jedem Termin ein kleines Geschenk, die Familie bekommt eine Aufwandsentschädigung und wird ausführlich über die Ergebnisse informiert. Näheres unter Tel. (030) 838-58051 (Eva Fröhlich). Im Internet unter: www.lexi-studie.de

Jonas Huggins

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