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Gezielt: Der Schweizer Landwirt Nils Müller will seine Angus-Rinder nicht mehr dem Schlachthof-Stress aussetzen.

© Gabriela Müller

Bio-Schlachten in der Schweiz: Den Weihnachtsbraten von der Weide schießen

Der Weg zum Schlachthof erzeugt bei Rindern viel Stress. Mit Unterstützung von Tierschützern soll in der Schweiz jetzt die „Weidetötung“ durchgesetzt werden.

Nils Müller hat wieder einmal schlecht geschlafen. Nach dem Frühstück wird der Landwirt vom Küsnachter Berg im Schweizer Kanton Zürich eines seiner Rinder töten müssen. Mit seinem finnischen Jagdgewehr wird er auf den Hochsitz neben der Koppel klettern und auf eines der Tiere schießen, die dort grasen.

Gemeinsam mit seiner Frau Claudia Wanger will Müller den Tieren auf diese Weise einen schnellen Tod in ihrer gewohnten Umgebung ermöglichen und den stresserfüllten Weg zum Schlachthof ersparen.

Um die Genehmigung dieser „Weidetötung“ hat das Paar, unterstützt vom Forschungsinstitut für Biologischen Landbau FiBL im schweizerischen Frick und der Tierschutzorganisation „Vier Pfoten Schweiz“ sechs Jahre lang mit den Behörden des Kantons gerungen. Jetzt dürfen sie in den nächsten zehn Jahren ihre Rinder mit solchen gezielten Schüssen töten.

Im Hochsitz nimmt sich Müller viel Zeit. Legt an. Zielt. Erst wenn er sich ganz sicher ist, den Kopf des Rindes exakt an der richtigen Stelle zu treffen, schießt er. Das Tier bricht wie vom Blitz getroffen zusammen, die anderen Rinder schauen nur überrascht – und fressen alsbald weiter.

Auch in Deutschland gibt es diese Abschussgenehmigung

Auch in Deutschland haben einige hundert Betriebe eine solche Abschussgenehmigung, aber nur wenn ihre Rinder das ganze Jahr über auf der Weide sind. Die Schweiz aber will viel weiter gehen: Alle Nutztiere des Landes auf der Weide oder auf dem Hof getötet werden dürfen. Diese in Europa einmalige Möglichkeit sieht das neue Lebensmittelgesetz des Landes vor, das 2020 verabschiedet werden soll.

Damit soll den Tieren Leid erspart werden, das bereits beim Trennen von der Herde beginnt. Als instinktive Herdentiere zeigen viele typische Stressreaktionen, koten und urinieren etwa viel häufiger als normalerweise. Die rucklige Fahrt zum Schlachthof im Transportwagen potenziert den Stress. Am Zielort treiben dann fremde Menschen die Tiere in eine neue, fremde Umgebung, die von den Gerüchen zuvor hier angekommener Artgenossen erfüllt ist und als Warnung wahrgenommen werden.

Entsprechend viel vom Stresshormon Kortisol lassen sich im Blut von Tieren finden, die im Schlachthaus getötet wurden, zeigen Studien des FiBL. In der Natur bereitet das Hormon den Körper auf Flucht- oder Verteidigungsreaktionen vor, etwa indem es größere Mengen des Zuckers Glukose als Energielieferant freisetzt. Für die Qualität des Fleisches ist das aber abträglich, weil sich in den Muskeln Laktat bildet, das den Geschmack des Rindfleisches verschlechtert.

Den Rindern bleibt Stress erspart

Müllers und Wagners Rinder hingegen bleibt der Stress erspart. Sogar an den Knall des Schusses sind sie inzwischen gewöhnt. „Am Vortag schieße ich aus dem Hochstand in einen Sandsack und mache die Tiere in der Koppel so mit dem Geräusch vertraut“, sagt Müller.

So vorteilhaft es für die Rinder sein mag, auf der Weide getötet zu werden – um die Prozedur zu ermöglichen, müssen die Landwirte einige Hürden überwinden und Detailfragen klären, etwa die Wahl der Munition. Müller verwendet Kaliber .22, auf Empfehlung einer 2014 in der Zeitschrift „Landtechnik“ erschienen Studie der Universität Kassel und des Beratungs- und Schulungsinstituts für Tierschutz bei Transport und Schlachtung in Schwarzenbek in Schleswig-Holstein.

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Nach dem Schuss müssen sich Nils Müller und der Küsnachter Metzger Patrick Föllmi beeilen: Den behördlichen Vorgaben zufolge müssen sie das Tier innerhalb von 90 Sekunden an den Hinterbeinen hochhieven und es mit einem Kehlschnitt ausbluten lassen. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn in dieser Zeit wachen Tiere, die durch den Schuss nicht sofort getötet, sondern nur betäubt wurden, mit Sicherheit nicht wieder auf. „Im Durchschnitt brauchen wir nur 70 Sekunden bis zum Ausbluten“, sagt Müller.

Die Zeit ist knapp, um das Fleisch zu verarbeiten

Danach hat er mit Föllmi, ebenfalls behördlich vorgeschrieben, nur 45 Minuten Zeit, um dem Rind im Schlachtlokal des Metzgers das Fell abzuziehen, die Eingeweide zu entnehmen und den Schlachtkörper zu halbieren. Der Grund dafür ist, dass die Mikroorganismen im Pansen des Tieres auch nach dessen Tod weiterarbeiten, also Gras verdauen und dabei Gase produzieren, die das tote Tier nicht mehr ausrülpsen kann. Würden dadurch die Eingeweide platzen, wäre das Fleisch ungenießbar. In dünn besiedelten Landstrichen ist die Zeitspanne zu knapp, da der Weg zum nächsten Schlachthof oft zu weit ist.

Ein ganz anders gelagertes Problem des Abschusses auf der Weide ist, dass nicht jeder Landwirt die innere Kraft aufbringt, seine eigenen Tiere zu töten. Daher propagiert FiBL-Mitarbeiter Eric Meili eine Alternative: Werden Tiere im Winter im Stall gehalten, stecken sie ihren Kopf durch ein „Fressgitter“, hinter dem Heu liegt.

Steht ein ähnliches Fressgitter auf dem Weg zum Auslauf im Freien, stecken die Rinder völlig ohne Stress auch dort ihren Kopf auf der Suche nach einer Mahlzeit durch. Sie können dann ihren Kopf kaum noch bewegen, der Metzger kann sie mit einem Bolzenschuss betäuben. Erste Betriebe nutzen diese Möglichkeit bereits, mit dem neuen Lebensmittelgesetz soll dieser Weg allen Schweizer Höfen offen stehen – um Tieren ihren letzten Weg zu erleichtern.

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