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Piano Man: Keith Jarrett, circa 1975, nicht in Köln, sondern in San Francisco.

© Photo by Tom Copi/Michael Ochs Archives/Getty Images

„The Köln Concert“: Ein Pianist lehrt die Welt Innovation durch Anpassung und Improvisation

Ein Tag im Januar, an dem eigentlich alles schiefgeht. Doch dann wird Musikgeschichte geschrieben. Wie Keith Jarrett das vor 50 Jahren schaffte, sollte auch die Manager von heute interessieren.

Richard Friebe
Ein Essay von Richard Friebe

Stand:

Es ist der 24. Januar 1975. In Köln ist ein Star seines Genres zu Gast. Der Jazzpianist Keith Jarrett soll am Abend ein Solokonzert spielen. Es soll das erste Jazzkonzert in der Kölner Oper überhaupt werden. Der Saal ist ausverkauft. Vier Mark pro Platz. Die gerade einmal 18-jährige Organisatorin des Konzerts, Vera Brandes, hat eigentlich einen guten Flügel organisiert, genau den, den Jarrett braucht. Geliefert wird aber ein anderer.

Und als der junge Maestro nachmittags probeweise seine Finger über die Tasten fliegen – und in seiner charakteristischen Spielweise auch mal hämmern – lässt, ist schnell klar, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Das Piano ist verstimmt, und Jarrett auch. Sehr. Das Instrument klingt schrecklich.

Jarrett sagt, ein Konzert, sein Konzert, ist damit unmöglich. Brandes organisiert schnell einen wertvollen Ersatz-Flügel. Doch der Klavierstimmer warnt, dieser könnte durch den ad-hoc-Transport durch die nasse Kälte des Kölner Januars so sehr leiden, dass den Schaden dann niemand bezahlen könnte. Also erreicht er nie die Bühne der Oper.

Jener Klavierstimmer tut sein Möglichstes und leistet dabei offenbar Meisterhaftes, befreit klemmende Tasten, befreit das Piano-Wrack zumindest von einigen seiner Missklänge. Brandes bekniet derweil Jarrett, der schon im Auto sitzt, es sich noch einmal zu überlegen und doch bitte trotz allem zu spielen. Auf dem in seinen Möglichkeiten nach wie vor sehr beschränkten Bösendorfer-Flügel. Auch um dieses Gespräch und die dort gefallenen, angeblich von Miles Davis inspirierten und nicht ganz jugendfreien Worte, ranken sich Legenden.

Jarrett sagt ja. Er spielt. Der Rest ist Musikgeschichte.

Keith Jarrett liefert an jenem Abend im nasskalten Köln eines der besten Beispiele für ein oft übersehenes, universelles Phänomen. Man findet es schon in der biologischen Evolution, und in der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte ganz besonders: Fortschritt, Innovation, Neues, Anderes, Wegweisendes, Nie-Dagewesenes, große Kunst, all das entsteht meist nicht dann, wenn die Umstände optimal sind.

Es entsteht vielmehr unter teils massiven Einschränkungen. „Not macht erfinderisch“ ist das passende Sprichwort. In einem Wirtschafts-Fachmagazin findet es sich dann etwa unter dem Titel „Ressourcenbeschränkungen als Treiber frugaler Innovation“.

Was nicht passt...

In der Biologie sind die Beispiele, in denen Anpassungen an eigentlich ungünstige Bedingungen neue, erfolgreiche Arten und Gattungen hervorgebracht haben, ein Leitmotiv. Doch es fing schon viel früher an. Die frühen Organismen auf der Erde hatten beispielsweise mit zwei extrem schädlichen, giftigen und aggressiven Substanzen zu kämpfen. Sie hießen Sauerstoff und Kalzium.

Ich hatte einen Bösendorfer, den ich wirklich nicht mochte.

Keith Jarrett in einer Fernseh-Dokumentation von 2007 über den Flügel in Köln 1975.

„Das Leben“ stand vor der „Entscheidung“, hier zu kapitulieren, oder sich den widrigen Umständen eben anzupassen, sie gar zu nutzen. Heute, und nun schon seit gut drei Milliarden Jahren, ist Sauerstoff eine der wichtigsten Zutaten für die Energieproduktion der meisten Organismen, und Kalzium ein wichtiges Baumaterial, vor allem aber ein wichtiger Signalstoff. Doch das Erbe ihrer Giftigkeit wirkt weiter. Sauerstoff kann nach wie vor als hochreaktives Radikal wirken, das biologische Strukturen schädigen kann.

Und Kalzium ist auch deshalb zu einem der wichtigsten Signal-Moleküle geworden, weil lebende Zellen sehr früh lernen mussten, es hocheffizient über Membranen auszupumpen und die Konzentrationen in der Zelle genau zu regulieren. Heute zählen wir Sauerstoff und Kalzium zu den lebenswichtigen Substanzen schlechthin. Das Leben hat sich an zwei der widrigsten Stoffe, die die Ur-Erde zu bieten hatte, komplett angepasst und sie nutzbar gemacht.

Alles war falsch. Außer, dass ausverkauft war.

Keith Jarrett über jenen Abend in Köln

Keith Jarrett lieferte an jenem Abend seine Version des Umgangs mit hier eben nicht biochemischen, sondern technologischen und kulturellen Widrigkeiten. Auch er reagierte damit, zu regulieren, sich dem Klang des Instruments „anzupassen“, wie er es selbst in einem Interview formulierte, das Vorhandene zu nutzen, das Widrige auszuschalten oder beherrschbar zu machen.

Holzfällerhemd, Schnauzer und ... Frisur. Aber die magischen Hände in der Tasche: Keith Jarrett, 1975, Los Angeles.

© Photo by Michael Ochs Archives/Getty Images

Jarrett hätte einfach sagen können: „Ich spiele auf dem Ding nicht.“ Dann wäre er trotzdem sicher ein Großer des Jazz geworden. Zu dem Legendenstatus in der Musikgeschichte insgesamt, den er heute innehat, hat aber eben dieses Konzert sehr viel beigetragen. Jarrett nahm das Instrument an, spielte notgedrungen ziemlich anders als auf den Flügeln, die ihm sonst zur Verfügung standen. Jarrett-Biograf Wolfgang Sandner schreibt, der Meister habe etwa viele der höheren, auf dem Instrument blechern klingenden Töne vermieden. Er bearbeitete auch die Tasten wohl weniger „robust“ als sonst. Und die laut Legende kaputten Pedale nutzte er, so klingt es zumindest auf der Platte, als Perkussionsinstrumente.

Vom Rumpelpiano zu einem Bestseller der Musikgeschichte

Er trat mit dem Instrument, mit den widrigen Umständen, in einen Austausch und entlockte dem Flügel die besonderen Klänge, die nur dieses Instrument nach all der Arbeit des Klavierstimmers nun hergab. In einem Interview sagte er einmal, er sei, während des Spielens, mehrfach überrascht gewesen von diesem Klavier und was es ihm ermöglichte. Jarrett münzte seinen Ärger in Kreativität um. Die Live-Aufnahme des als „The Köln Concert“ in die Musikgeschichte eingegangenen Events ist heute eines der meistverkauften Jazz-Alben aller Zeiten, und die meistverkaufte Klavier-Soloplatte auch.

Muxmäuschenstill habe ich den riesigen Raum in Erinnerung und wir schwebten auf dem Balkon ins Universum, unten spielte für uns, einsam auf der Bühne, der Magier des Abends.

Klaus Erich Haun, damals 22, über das Konzert in Köln.

Der Künstler Klaus Erich Haun war damals 22 und hörte zu: „Ich saß mit meinem Bruder und unseren Freundinnen hoch oben auf einem der Balkone in schwindelnder Höhe, und von all den höchst kritischen Problemen haben wir nichts mitbekommen“, erinnert er sich heute. Im Gegenteil: „Das Konzert war etwas, was uns alle gefangengenommen hat. Muxmäuschenstill habe ich den riesigen Raum in Erinnerung und wir schwebten auf dem Balkon ins Universum, unten spielte für uns, einsam auf der Bühne, der Magier des Abends.“

Never judge a record by its cover... Das Künstlerfoto auf „The Köln Concert“ stammt, aus Mangel an Originalfotos, gar nicht vom „Köln Concert“. Die Musik aber schon, was überraschend genug ist.

© dpa/Oliver Berg

Jarrett kam bei diesem seinem berühmtesten Konzert etwas, das auch für all seine anderen Auftritte zumindest im Genre Jazz gilt, sehr zu Hilfe: Er spielte nie etwas vom Blatt, spielte nie ein einstudiertes Stück. Er war flexibel, Improvisation war sein Geschäftsmodell.

Wir wollten die Toningenieure schon heimschicken. Im letzten Moment sagten wir, na ja, wenn sie schon mal da sind …

Keith Jarrett über den Moment, der darüber entschied, dass das meistverkaufte Solo-Klavierkonzert überhaupt aufgenommen wurde.

Für viele Unternehmen der Gegenwart gilt das nicht. Sie wirken wie anfällige Mimosen. Und wenn Lieferketten Probleme machen, oder Fachkräfte fehlen, sich die Kommune mit Genehmigungen querstellt oder das politische Umfeld als ungünstig empfunden wird, geht es bergab. Die Manager rufen dann nach Förderung, nach Optimierung des Umfeldes. Und je nachdem, was grad besser zu passen scheint: nach staatlicher Unterstützung und Regulierung oder staatlicher Deregulierung. Alles in allem nach besseren, einfacheren Bedingungen.

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Millionen Tonträger mit dem „Köln Concert“ haben sich bislang, soweit bekannt, verkauft, Streams nicht eingeschlossen.

Dabei betonen Wirtschaftswissenschaftler und -historiker immer wieder eine Parallele zur schon erwähnten Biologie und zu Sternstunden der Kreativität wie hier bei Keith Jarrett: Innovation in Branchen oder gar einzelnen Betrieben, aber auch eine daraus resultierende gesamtwirtschaftlich positive Entwicklung, all das ist sehr häufig das Resultat zwar nicht komplett widriger, aber doch sehr herausfordernder Bedingungen.

Wir waren alle gleichzeitig überrascht, ich eingeschlossen, von den Klängen.

Keith Jarrett über seine Gedanken und Empfindungen während des „Köln Concerts“, als sich gegen alle Wahrscheinlichkeit etwas musikalisch Besonderes entwickelte.

Alle Zitate des Musikers aus: Keith Jarrett – Der amerikanische Jazzpianist im Porträt. 2007, 30 Minuten, Buch und Regie: Frank Zervos und Ekkehard Wetzel, ZDFdokukanal.

Das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg wird gerne als Beispiel angeführt. Oder das Mondprogramm der Amerikaner, das zwar viel Geld verschlang, aber zeitlich und technologisch stets am Limit war. Oder auch der „Sanktions-Krieg“ zwischen Russland und der EU, der neben vielem anderen dazu geführt hat, dass in Putins Reich nun Käse hoher Qualität hergestellt wird. Vorher war er schlicht immer importiert worden.

Und viele Unternehmen, die öffentlich gerne bessere, hemmnisärmere Bedingungen von der Politik fordern, nutzen für interne Prozesse genau das Mittel der Beschränkungen. So werden Entwicklungsteams selten mit grenzenlosen Budgets ausgestattet, sondern nach dem Prinzip des „incremental funding“. Hier müssen diese Gruppen zunächst mit wenig Geld auskommen und bekommen nur, wenn sie trotzdem etwas Vielversprechendes abliefern, mehr Ressourcen.

Innovation braucht Beschränkung

Oder der Chef gibt ein konkretes, stark beschränkendes physisches Design-Ziel vor. So tat es etwa Steve Jobs, als er seine Ingenieure aufforderte, einen besonders leichten, flachen, aber doch stabilen und leistungsfähigen Laptop zu designen. Was herauskam, war nicht nur das erste MacBook Air, sondern eine ganze Generation flacher, leichter Laptops mit besonders effizienten Akkus, die den Markt bis heute mit dominieren.

Vielleicht werden deutsche und europäische Unternehmen bald notgedrungen wieder erfinderischer werden müssen, etwa, wenn Donald Trump die Zölle erhöht oder noch mehr und immer besser werdende chinesische Produkte auf den Welt- und den europäischen Markt drängen. Und vielleicht kann hier und nicht aus immer neuen und irgendwann dann auch nicht mehr möglichen staatlichen Hilfen eine der Quellen für eine Modernisierung, Erneuerung, Zukunftsbefähigung auch der deutschen Wirtschaft sprudeln.

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Vera Brandes half jener missliche, von fast unzumutbaren Beschränkungen geprägte, dann aber doch glorreiche Abend vor 50 Jahren auch rein ökonomisch. Sie stieg bald zu einer der erfolgreichsten Musikmanagerinnen Europas auf. Jarrett wurde zur Legende. Und das Geld, das er mit der unter jenen extremen Einschränkungen entstandenen Platte aus Köln verdiente, verschaffte ihm letztlich Freiheiten, die selbst im Free Jazz selten sind.

2018 hatte er zwei Schlaganfälle. Mit seiner linken Hand kann er nicht mehr spielen. Er tritt seither nicht mehr öffentlich als Konzertpianist auf.

Aber er spielt weiter, nur mit rechts, und hie und da gibt es auch Gelegenheiten, ihm dabei zuzusehen und zuzuhören. Der Musik-Youtuber Rick Beato etwa besuchte Jarrett 2023 für ein Interview. Und der Meister griff bei der Aufzeichnung auch in die Tasten. Wer zuhört und mit alten Aufnahmen vergleicht, merkt vielleicht, wie auch diese krasse Beschränkung wieder etwas Neues hervorbringt.

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