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© Lisa Rock für den Tagesspiegel

„Der Erbonkel“: Wenn die Mutter auch der Onkel ist

Ich bin der Vater meiner Kinder. Und meine Frau ist ihre Mutter. Davon sind Eltern so lange überzeugt, bis die Biologie zeigt: Es könnte auch ganz anders sein.

Eine Kolumne von Sascha Karberg

Eine Frau, ein Mann, Sex, Embryo und: Geburt! Die Sache ist simpel. Oder vielleicht doch nicht? Bis vor kurzem war ich felsenfest davon überzeugt: Diese drei Kinder sind von mir. Ich war nicht nur bei der Zeugung, sondern auch bei der Geburt dabei, habe jedes einzelne noch am gleichen Tag mit nach Hause gebracht, Vertauschen unmöglich. Und ähnlich sind sie mir und meiner Frau auch. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vaterschaftstest zeigen würde, dass eins der drei gar nicht von mir stammt, ist null. Dachte ich. Aber genau das ist einem Mann in Kalifornien passiert.

Eine Befruchtungsklinik hatte seiner Frau und ihm zu einem Sohn verholfen. Doch ein DNA-Test zeigte: Das Kind stammte nicht von ihm. Genauere Untersuchungen wiesen auf den Onkel als Erzeuger hin. Nur hatte der Mann gar keinen Bruder.

Der einverleibte Zwilling

Es stellte sich heraus, dass der Körper des Mannes aus Zellen von zwei Menschen besteht: ihm selbst und seinem (zweieiigen) Zwillingsbruder. Die beiden Embryonen verschmolzen in der frühen Entwicklung miteinander zu einer „Chimäre“ – einem Mix aus den genetisch verschiedenen Zellen der Brüder. Die Samenzelle, die den Jungen zeugte, trug das Erbgut des Bruders.

Ähnliches ist auch bei Frauen beschrieben. Einer Mutter in den USA wäre beinahe ihr Kind weggenommen worden, als ein DNA-Test vermeintlich feststellte, dass sie nicht die leibliche Mutter ist. Nur mit viel Glück konnte sie nachweisen, dass ihr Kind von Zellen ihrer in ihr aufgegangenen Zwillingsschwester stammte.

In frühen Entwicklungsstadien können zwei Embryonen fusionieren – und einen „chimären“ Organismus mit Zellen unterschiedlichen Erbguts bilden.
In frühen Entwicklungsstadien können zwei Embryonen fusionieren – und einen „chimären“ Organismus mit Zellen unterschiedlichen Erbguts bilden.

© M. Zernicka-Goetz, Uni Cambridge

Ganz absurd wird es, wenn der einverleibte Zwillingsembryo nicht das gleiche biologische Geschlecht hat. Erst kürzlich der Fall einer chimären Frau bekannt, deren Körper überwiegend aus Zellen mit den Geschlechtschromosomen XX, aber auch aus Zellen eines einverleibten Zwillingsbruders (XY) bestand. Aus letzteren ging eine Eizelle hervor, mit der sie ein Mädchen zeugte. Die Tochter kann also mit Fug und Recht behaupten, dass sie von ihrem Onkel und Vater gezeugt wurde. Und ihre Mutter gleichzeitig ihr Onkel ist!

Sind zehn Prozent der Menschen Chimären?

Wie wahrscheinlich so etwas ist? So genau weiß man das eigentlich nicht. Zwar ist es eher ungewöhnlich, dass bei einer Zwillingsschwangerschaft die Embryonen verschmelzen und ein chimärer Embryo entsteht. Aber wie selten genau, lässt sich nicht sagen. Beschrieben sind nur rund 20 Fälle. Allerdings wird kaum ein Mensch daraufhin untersucht, ob er eine Chimäre ist. Meist wird der Umstand nur durch Zufall entdeckt, etwa bei einer Blutuntersuchung, in der mehrere Blutgruppen festgestellt werden. Oder einem Abstammungstest. Bis zu zehn Prozent der Menschen, schätzen manche Genforscher, könnten Zellen eines „verschwundenen“ Zwillings in sich tragen.

Wäre ich weniger Vater meiner Tochter, wenn ich eine Chimäre wäre und das Genmaterial für ihre Zeugung von Zellen meines einverleibten Bruders (oder meiner Schwester) stammte? Nein, denn „ich“ wäre ja „wir“. Und den Akt der Zeugung hätten „wir“ komplett mit Haut (vielleicht von mir) und Haar (vielleicht von ihm) begangen. Weniger lieb hätten „wir“ unsere Tochter sicher nicht. Denn schließlich definiert sich Familie und Liebe nicht allein durch mehr oder weniger direkte Abstammung. Selbst wenn gar keine genetische Verwandtschaft besteht: Das Erbgut ihrer Kinder beeinflussen Eltern selbst dann, wenn diese adoptiert sind. Aber das ist eine andere Erbonkel-Geschichte.

Was wir zum Leben mitbekommen und was wir weitergeben jeden Sonntag Geschichten rund um Gene und mehr in der „Erbonkel“-Kolumne des Genetikers und Wissenschaftsjournalisten Sascha Karberg.

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