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Mit diesem Dokument reiste der aus Russland stammende Kaufmann Lew Merkin 1938 von Leipzig nach England aus.

© Wikimedia Commons/Huddyhuddy/CC BY-SA 4.0

Der erste Pass für Exilanten: Ausweis der Ausgestoßenen

Vor 100 Jahren wurde Fridtjof Nansen Völkerbund-Kommissar – und erfand einen Pass für Staatenlose. Dieser war ebenso heiß begehrt wie auch verachtet.

Der erste Flüchtlingsausweis der Welt war gleich ein Sondermodell. 1922 wurde er international ausgehandelt und im Völkerbund für staatenlose russische Flüchtlinge entwickelt. Er sollte eine neue Massenerscheinung kanalisieren – die von Krieg und Bürgerkrieg, Revolution und Vertreibungen ausgelösten Fluchtbewegungen.

Dieses für ganz bestimmte Gruppen reservierte Identitätsdokument war unter Flüchtenden und Exilanten ebenso heiß begehrt wie auch verachtet. Denn der während der 1920er-Jahre in mehr als 50 Ländern ausgestellte Pass-Ersatz war in seiner Rechtsqualität äußerst zwiespältig.

Was war dieses Zertifikat, missverständlich bekannt als Nansen-Pass, ganz materiell? Ein Stück Papier, zuerst als einseitiger Brief, oft handschriftlich, in Kanzleischrift ausgeführt. Später ein kleinformatiges Ausweis-Heftchen oder Leporello, mit vorgedruckten Rubriken zum Ausfüllen durch die jeweils ausstellende nationale Behörde, im Deutschen Reich die Ausländerpolizei.

Erfunden für Exilanten aus der Sowjetunion

Es enthielt mindestens ein Passfoto des Inhabers beziehungsweise der Inhaberin und seine oder ihre Unterschrift einerseits, Stempel oder Unterschriften der ausstellenden Behörde andererseits. Beide Elemente – Fotografie und Signatur – dienten als Techniken der eindeutigen Identifizierung der Person, um nur zweifelsfrei autorisierten Trägern den Zugang zu bestimmten Rechten zu gewähren, wie die Behördenstempel umgekehrt ihre Autorität beglaubigten. Ein Papierobjekt, das im Gebrauch verschmutzte, verwitterte oder zerriss, und so Spuren seiner Verwendung speicherte.

Erfunden hat das Dokument der norwegische Polarforscher und Diplomat Fridtjof Nansen (1861-1930) – seit Herbst 1921 Hoher Kommissar des Völkerbundes für russische Flüchtlinge – für Exilanten, denen die soeben entstehende Sowjetunion die Staatsbürgerschaft entzogen hatte.

Es entstanden viele lokale Flüchtlingskomitees

Als Ergebnis einer Serie internationaler Pass- und Flüchtlingskonferenzen unter Leitung des Völkerbundes entstanden mit dem Nansen-Zertifikat, das bis Ende der 1920erJahre 53 Staaten ratifizierten, 1926 das Office International Nansen pour les réfugiés russes („Nansen-Amt“) sowie zahlreiche lokale Flüchtlingskomitees – sei es in Sofia, Belgrad, Prag, Paris oder Marseille.

Vladimir Nabokov auf einem undatierten Foto. Er erinnerte sich an das Nansen-Zertifikat als „höchst minderwertiges Dokument von kränklich grüner Farbe. Sein Inhaber war wenig mehr als ein auf Bewährung entlassener Verbrecher“.
Vladimir Nabokov auf einem undatierten Foto. Er erinnerte sich an das Nansen-Zertifikat als „höchst minderwertiges Dokument von kränklich grüner Farbe. Sein Inhaber war wenig mehr als ein auf Bewährung entlassener Verbrecher“.

© mauritius images / TopFoto

Die Umlagefinanzierung durch die Ausstellungsgebühren in Form einer „Nansen-Marke“ sollte die Inhaber des Zertifikats nicht zu rein passiven Empfängern von Wohltätigkeit machen und ihre Selbsthilfekräfte aktivieren. Diese Mechanismen waren die Basis eines neuen internationalen, auf Lastenausgleich beruhenden Flüchtlingsregimes der Zwischenkriegszeit und galten als diplomatischer Erfolg.

West-, Mittel- und Osteuropa, Südamerika und der Ferne Osten: Das waren die Zwischenstationen und Exilorte jener Flüchtlinge der Russischen Revolution. Sie bilden so die Urgruppe politischer Flüchtlinge des 20. Jahrhunderts.

Erweiterung auf viele andere Gruppen

Die Völkerbund-Konferenzen erweiterten das international anerkannte Identifikations- und Reisedokument sukzessive auf weitere Gruppen: Mit armenischen Flüchtlingen (seit 1924) und aramäischen Christen (seit 1928; Assyrer, Aramäer, Assyro-Chaldäer, Türken, „Assimilierte“) galt es für Überlebende von Genozid und Vertreibung im Nahen Osten, in den 1930er-Jahren auch für jüdische Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus (1935/36 aus dem Saarland, 1938 aus Deutschland und Österreich).

Das Sonderdokument für staatenlose Flüchtlinge war jedoch keinesfalls allen Staatenlosen zugänglich, nicht einmal allen Flüchtlingen unter ihnen. Ausgeschlossen blieben etwa Hunderttausend Staatenlose in den Nachfolgestaaten des Habsburger Reiches, vor allem Ungarn, Österreicher, Ruthenen, Juden oder auch die Betroffenen der deutsch-polnischen Grenzverschiebungen.

Zu einer Generalisierung des modellbildenden Status für alle Betroffenen oder gar zur Ächtung von Staatenlosigkeit, wie sie Völkerrechtler, Minderheitenvertreter und humanitäre Akteure seit Beginn der 1920er-Jahre forderten, konnten sich weder die Regierungskonferenzen des Völkerbundes durchringen noch die Versammlungen zur Kodifizierung internationalen Rechts.

Ausgestellt für 450.000 Personen

In der Zwischenkriegszeit wurde der Nansen-Pass für etwa 450.000 Personen ausgestellt. Seine beschränkte Reichweite verdeutlicht die Ambivalenz der flüchtlingspolitischen Maßnahmen nach dem Ersten Weltkrieg. Entscheidend für staatenlose Flüchtlinge waren aber die praktischen Auswirkungen. Der Identitätsnachweis ermöglichte es, Wohnung und auch Arbeit zu finden. Er war eine notwendige Voraussetzung für die bürokratische Seite eines bürgerlichen Lebens mit Eheschließung, dem Erwerb von Eigentum und so weiter.

Der formalisierte Flüchtlingsstatus berechtigte in einigen Ländern Europas zu Unterstützungsleistungen durch Hilfsorganisationen oder staatliche Organe, erforderte aber eine wiederholte Beglaubigung in kurzen Abständen. Er unterwarf die Inhaber zermürbenden, oft als demütigend oder willkürlich erfahrenen bürokratischen Gängelungen. Der Schriftsteller Vladimir Nabokov (1899-1977) erinnert sich an das Nansen-Zertifikat als „höchst minderwertiges Dokument von kränklich grüner Farbe. Sein Inhaber war wenig mehr als ein auf Bewährung entlassener Verbrecher“.

Könnte der Nansen-Pass auch Vorbild sein, um bei heutigen Fluchtbewegungen zu helfen (im Bild ein Flüchtlingscamp in Afghanistan).
Könnte der Nansen-Pass auch Vorbild sein, um bei heutigen Fluchtbewegungen zu helfen (im Bild ein Flüchtlingscamp in Afghanistan).

© picture alliance/dpa/AP

Nach einem Jahr war der Pass-Ersatz zu verlängern. Er bedeutete keinen sicheren Asylstatus, schützte aber formal (nicht unbedingt faktisch) vor Deportation und bildete die Voraussetzung für die bei jedem Grenzübertritt neu einzuholenden Einzelvisa, für die er als Trägerpapier diente. Bevor 1926 Rückkehrvisa gestattet wurden, wagten sich Inhaber jedoch aus Angst, nach der Heimat auch das Land ihrer Zuflucht zu verlieren, oft nicht über die Grenzen. Dennoch galten die „Nansen-Flüchtlinge“ als privilegiert – Hannah Arendt bezeichnete sie sarkastisch als „Aristokratie“ unter den Staatenlosen.

Zahlreiche Bittschreiben

Zugleich weckte das neuartige Dokument Hoffnung, wie zahlreiche Bittschreiben auf die Ausstellung eines „Völkerbundpasses“ in den Archiven des Völkerbundes dokumentieren. Zuständigkeitshalber wurden sie allerdings abschlägig beschieden.

Die Lebensgeschichte der lettischen Migrantin Elly Ly (i.e. Lipschitz), der es gelungen war, sich in Berlin als Journalistin beruflich zu etablieren, illustriert die begrenzte Reichweite.

Ein Zeitschriftenbeitrag: "Die Tragödie der Staatenlosen"

Ly schilderte 1932 – im Jahr, bevor sie aufgrund der antijüdischen Verdrängung ihre Zeitungsredaktion und anschließend Deutschland verlassen musste –, in dem anonym publizierten Zeitschriftenbeitrag „Die Tragödie der Staatenlosen“ die Schwierigkeiten, denen sie sich durch das „Kainszeichen“ des Nansen-Zertifikats ausgesetzt sah. Vor jeder Reise waren polizeiliche Ein- und Ausreiseerlaubnis einzuholen, was der Reiseberichterstatterin manchen Auftrag verdarb. Die Ausreise nach Lettland, in das Land ihrer Herkunft, gelang nur mithilfe von Leumundszeugen.

Als „Ausgestoßene, Geächtete“ und „in seinen natürlichsten Menschenrechten beschränkt“ fühlte sich Ly bereits, bevor die nationalsozialistische Machteroberung, die sie 1933 ein zweites Mal ins Exil zwang. Dort erwies sich die relative Privilegierung durch das Ersatzdokument als Falle, weil das faschistische Italien das längst abgelaufene, noch in Berlin ausgestellte Nansen-Zertifikat nicht verlängerte.

Das Nansen-Zertifikat war eine international ausgehandelte technisch-bürokratische Antwort auf neuartige politische Aggressionen gegen verletzliche Bevölkerungsgruppen, dokumentierte Identität (Herkunft) anstelle des Heimatlandes und stiftete eine (neue) Identität als Flüchtling.

Es lässt sich als ein Normalisierungsversuch mittels eines Provisoriums deuten. Das Dokument, das die Mobilität staatenloser Gruppen ermöglichen sollte – durch ihre Repatriierung oder Einbürgerungen in ein Zufluchtsland –, schuf tatsächlich eine Ersatzidentität als Staatenlose.

Meilenstein des humanitären Völkerrechts

Das Zertifikat und die flankierenden Maßnahmen der „Nansen-Ära“ gelten als Meilenstein der Entwicklung des humanitären Völkerrechts, eines Flüchtlingsrechts und der Etablierung eines regulierten Asylrechts, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Genfer Flüchtlingskonvention 1951 (welche die Nansen-Vereinbarungen ausdrücklich einschließt) und das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen durchgesetzt wurde. Dabei wich der kollektive Flüchtlingsbegriff der Zwischenkriegszeit einem höchst individuell nachzuweisenden Schutzanspruch vor politischer Verfolgung.

Erst 2003 wurde dem UNHCR ein explizites Mandat für Staatenlose übertragen. Es berücksichtigt nun den strukturellen Charakter des vermeintlichen Krisen- und Kurzzeitphänomens. Aktuelle Kommentatoren der Fluchtkrisen, deren Zeugen wir spätestens seit 2015 sind, verweisen auf die Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts und auf das Modell des Nansen-Zertifikats, um Lösungen für die heute geschätzt zehn Millionen staatenlosen Menschen weltweit zu finden. So hat dieses zwiespältige Dokument des 20. Jahrhunderts möglicherweise noch eine Zukunft.

Die Autorin ist Historikerin und leitet die Abteilung Akademie der Stiftung Humboldt Forum. Der Beitrag basiert auf einem Text, der zunächst in den „Zeithistorischen Forschungen“ erschienen ist.

Kathrin Kollmeier

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