
Übergewicht: Dicker Bonus
Bei Übergewichtigen sind bestimmte Hirnareale des Belohnungszentrums anders verdrahtet. Möglicherweise hilft ihnen eine Verhaltenstherapie.
Warum kann man nicht beim Fernsehen, Telefonieren oder einfach angestrengtem Nachdenken abnehmen? Immerhin beansprucht das Gehirn während solcher körperlicher Ruhephasen rund ein Viertel des Energieumsatzes. Doch das ist noch immer vergleichsweise wenig gegenüber dem, was wir an Kalorien zu uns nehmen. Die Zahlen für Übergewicht und schwere Fettsucht steigen weiter. Darauf machte Michael Stumvoll beim Symposium der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie in Leipzig aufmerksam.
Bei dem Treffen der Hormonexperten war die Adipositas eines der zentralen Themen. Am Kongressort ist ein Forschungs- und Behandlungszentrum für Adipositas-Erkrankungen geplant. Stumvoll, Direktor der Klinik für Endokrinologie, hofft, dass die Fördersumme von 24 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium in den nächsten Tagen bewilligt wird und das Zentrum im Mai seine Arbeit aufnehmen kann.
Schon jetzt kommen aus Leipzig wichtige Anstöße in diesem Forschungsfeld. So war die Arbeitsgruppe von Wieland Kiess an der Uni-Kinderklinik mit Daten des Leipziger Schulkinderprojekts an der Entdeckung eines Gens auf Chromosom 16 beteiligt. Das Gen FTO (für „fat mass and obesity associated“) scheint maßgeblich an der Entstehung von Übergewicht beteiligt zu sein. In einer Untersuchung von fast 39 000 Personen konnte gezeigt werden, dass Menschen, die die Genvariante „rs1121980“ von beiden Eltern geerbt haben, im Schnitt zwei bis drei Kilo schwerer sind als Vergleichspersonen ohne diese Veränderung im Erbgut. Sind Träger der FTO-Genvariante also die „besseren Futterverwerter“, die nicht mehr essen als Schlanke, bei denen jede Kalorie aber besser anschlägt?
Eher nicht, meint Stumvoll. „Wir vermuten, dass genetische Varianten wie die in FTO mehr mit dem Essverhalten als mit dem Energieverbrauch zu tun haben.“ Menschen mit dieser und anderen Genveränderungen würden wahrscheinlich von einem einfachen Ideal geleitet, das Stumvoll so formuliert: „Mehr Kalorien aufnehmen als verbrauchen.“ Ein Ideal, das in Zeiten des Mangels sinnvoll ist. Wird die Energie jedoch dauerhaft als Fett im Körper gespeichert, beeinflusst das über Botenstoffe zahlreiche Stoffwechselprozesse im Körper negativ. Übergewicht kann so unter anderem den „Alterszucker“ (Diabetes mellitus vom Typ II) auslösen.
Stumvolls Leipziger Arbeitsgruppe untersucht derzeit die kleine, genetisch relativ nah verwandte Gruppe der circa 15 000 Sorben in der Lausitz auf Genvarianten, die mit Übergewicht, Risikofaktoren wie Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen und Krankheiten wie Diabetes in Zusammenhang stehen. Volksleiden dieser Art sind meist „polygen“. Das heißt, ein Mix aus verschiedenen Genvarianten macht anfälliger für Stoffwechselveränderungen, die allerdings ohne den modernen Lebensstil nicht eintreten würden. „Entscheidend ist, dass es heute einen leichteren Zugang zu hochkalorischen Lebensmitteln gibt“, sagt Stumvoll. Für die Ausführung der genetischen „Befehle“, für Notzeiten möglichst viel Energie zu speichern, sind Hormone und andere Botenstoffe zuständig, das Spezialgebiet der Endokrinologen.
Als Hoffnungsträger der Adipositasforscher galt einige Zeit lang das „Dünnmachhormon“ Leptin, das übergewichtigen Kindern mit extrem seltenen Störungen zur Normalisierung ihres Gewichts verhelfen kann. Eine Wunderwaffe gegen Übergewicht ist es jedoch nicht.
Inzwischen suchen die Leipziger Forscher auch an der Stelle nach Erklärungen, wo am meisten Energie verbraucht wird: im Kopf des Menschen. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Hirn- und Kognitionsforschung haben sie – ebenfalls bei einer großen Anzahl von Personen – die Hirnstrukturen von Übergewichtigen mit denen Normalgewichtiger verglichen. „Wir haben herausgefunden, dass in einem Feld des orbitofrontalen Cortex bestimmte Strukturen anders verdrahtet sind“, berichtete Stumvoll auf dem Kongress. Das Areal, das über der Augenhöhle liegt, gehört zum körpereigenen Belohnungssystem.
Der neue Befund könnte gut zu der Entdeckung der Genvariante passen. Denn auch FTO hat möglicherweise mit dem Belohnungssystem zu tun, wie Stumvoll erläuterte. Träger des veränderten FTO-Gens spielten jedenfalls im „Iowa Gambling Test“, der eine Suchtgefährdung vorhersagt, riskanter und setzten stärker auf schnelle Belohnungen.
Die Erkenntnisse legen nahe, dass zumindest einem Teil der schwer Übergewichtigen eine Verhaltenstherapie helfen könnte. Mit den Genen und dem Verhalten sei es wie beim Kartenspielen, fügte der Bochumer Endokrinologe Helmut Schatz hinzu: „Man sollte nicht allein auf ein gutes Blatt setzen, man muss auch gut spielen lernen.“Adelheid Müller-Lissner