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Das Wissen um den eigenen Infektionsstatus hinkt der Pandemie naturgemäß hinterher.

© dpa/Kay Nietfeld

Die Gefahren exponentiellen Wachstums: Wer jetzt noch vor Corona-Alarmismus warnt, hat nichts verstanden

Wie sich die Zahl der Neuinfektionen jetzt verändert, ist entscheidend. Geht es weiter wie bisher, stünden wir Weihnachten bei 300.000 neuen Fällen pro Tag.

„Wir müssen aufhören, auf die Zahl der Neuinfektionen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, das führt zu falschem Alarmismus.“ So äußerte sich der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Andreas Gassen kürzlich in einem Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.

Doch niemand starrt auf die Neuinfektionen.

Wenn überhaupt auf irgendetwas "gestarrt" wird, dann auf die Veränderungen der Neuinfektionszahl.

Und wer angesichts des Verlaufs und der Geschwindigkeit dieser Veränderung in den vergangenen Tagen nicht zumindest ins Nachdenken, wenn schon nicht in Besorgnis geraten ist, hat offenbar im Mathematikunterricht beim Thema Exponentialfunktion nicht aufgepasst. Das kann schlimme Folgen haben, denn so realitätsfern ist die Mathematik mit ihrer Beschreibung von Phänomenen exponentiellen Wachstums eben doch nicht.

Starrten wir also nicht auf die Veränderungen der Neuinfektionszahlen und ließen uns nicht, anders als Gassen alarmieren, sondern alles so weiterlaufen, dann wäre schon Ende des Monats aufgrund der jüngsten Entwicklung mit mindestens 15.000 täglichen Neuinfektionen zu rechnen. Zu Weihnachten stünden dann 300.000 Neuinfektionen pro Tag an.

Dazu wird und muss es nicht kommen, eben weil Gegenmaßnahmen eingeleitet sind und werden, eben weil solche Zahlen ernst genommen werden, eben weil die Exponentialfunktion verstanden wird.

Der Mechanismus, der Millionäre macht?

Im Matheunterricht verbreitet die Exponentialfunktion Angst und Schrecken unter Schülerinnen und Schülern gleichermaßen und wird danach ihren schlechten Ruf ein Leben lang nicht mehr los. Dagegen hilft auch nicht, dass die Mathematikdidaktik sich alle Mühe gab und gibt, dem Wörtchen „exponentiell“ ein positives Image anzudichten.

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In meiner Schulzeit geschah dies dadurch, dass der Lehrer exponentielles Wachstum als Möglichkeit anpries, ohne jede Mühe reich zu werden: Aus 100 Euro, die man auf einer Bank „anlegt“, werden bei einer Wachstumsrate von 10 Prozent, dem sogenannten Zins, nach einem Jahr bereits 110 Euro, nach zwei Jahren 121 Euro, nach drei Jahren 133,1 Euro und so weiter.

Dieses Prinzip exponentieller Geldvermehrung ist leicht zu verstehen: Das jeweilige Kapital wird mit einem Faktor multipliziert, das Ergebnis wird dem Kapital zugeschlagen, dieses dadurch gewachsene Kapital wird wiederum mit dem gleichen Faktor multipliziert, und so weiter. Mit der Zeit wächst das Kapital also immer schneller. Nach rund sieben Jahren hat es sich bereits verdoppelt, nach weiteren sieben Jahren vervierfacht, und so weiter.

Mal ganz abgesehen davon, dass die Europäische Zentralbank die Wachstumsrate auf null gesetzt hat und uns einfachen Menschen damit diese Möglichkeit der Geldvermehrung mithilfe der Exponentialfunktion von vorneherein genommen hat, konnte die exponentielle Verheißung kommenden Reichtums auch schon bei früheren Schülergenerationen kaum positive Stimmungen erzeugen.

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Denn der Zinssatz für die Geldeinlagen in unseren Sparbüchern lag auch in den mittlerweile weit zurückliegenden Jahren meiner Jugend höchstens mal bei fünf Prozent. Und wer im Matheunterricht aufgepasst hatte, konnte dann leicht ausrechnen, unter welchen Umständen die Exponentialfunktion aus ihm einen Millionär machen würde: Entweder musste man schon von Anfang an viel Geld besitzen und anlegen. Oder man musste viel Geduld haben.

Bei einem Zinssatz von fünf Prozent liegt die Verdoppelungszeit des jeweiligen Kapitals bei etwa 14 Jahren. Mit einem Anfangskapital von 1000 Euro dauert es dann bis zum Millionär immerhin rund 140 Jahre.

Die "Verzinsung der Infektion" lag anfangs bei 27 Prozent

Das Sars-CoV-2-Virus hingegen vermehrt sich viel schneller: Am Beginn der Pandemie, als das Virus noch leicht die damals üblichen geringen Abstände zwischen Menschen und kaum durch Masken gehindert überwinden konnte, lag die tägliche Wachstumsrate der Anzahl der vom Virus befallenen Menschen, also gleichsam die Verzinsung der Infektion, bei etwa 27 Prozent.

Aus jeweils 100 Infizierten wurden also am nächsten Tag 127 Infizierte, am übernächsten Tag 161 Infizierte, und am darauffolgenden Tag 204 Infizierte. Innerhalb von nur drei Tagen hatte sich also die Anzahl der vom Coronavirus befallenen Menschen etwa verdoppelt. Wenn das exponentiell so weitergegangen wäre ...

Doch wegen der getroffenen Gegenmaßnahmen wurden die täglichen Wachstumsraten der Neuinfektionen monatelang immer kleiner. Mittlerweile steigen sie aber wieder, wenn auch deutlich langsamer als vor einem halben Jahr: Bis vor kurzem betrug die Wachstumsrate der täglichen Neuinfektionen „nur“ etwa 2,5 Prozent. Dem entspricht eine Verdoppelungszeit von etwa 28 Tagen.

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Trotz dieser kleinen Wachstumsrate würden sich bis Jahresende, wenn sich nichts an ihr ändern würde, die täglichen Neuinfektionen also drei Mal jeweils verdoppeln, insgesamt also um das Achtfache erhöhen.

Rechnet man beispielsweise mit den Neuinfektionszahlen zu Beginn dieses Monats , also etwa 2500 neuen Fällen pro Tag, würde es bis Jahresende etwa 20.000 Neuinfektionen pro Tag geben – nah bei den 19.200 Neuinfektionen zu Weihnachten, vor denen Kanzlerin Angela Merkel jüngst warnte und dabei ausdrücklich auf die Exponentialfunktion hinwies.

R-Wert liegt schon seit Wochen fast täglich über 1

Denn schon seit Anfang September liegen die R-Werte wieder fast täglich über 1, was immer exponentielles Wachstum bedeutet. Auch wenn die Wachstumsraten von täglich zwei bis drei Prozent bis vor kurzem noch klein waren, wachsen damit eben auch kleine Anfangszahlen im Laufe der Zeit zu immer größeren Werten an. Allerdings sind die gemeldeten Neuinfektionszahlen während der vergangenen Woche deutlich angestiegen.

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Wenn es sich bei den zum Beispiel am Samstag angegebenen weit über 4000 Neuinfektionen um keinen „Ausrutscher“ handelt, würde dies deutlich höhere Wachstumsraten anzeigen. Sollten diese Woche erneut Werte über 4000 oder gar 5000 tägliche Neuinfektionen gemeldet werden, würde auch der zugehörige R-Wert deutlich steigen. Aktuell wird er vom RKI mit 1,4 angegeben (Stand 7. Oktober).

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Das bedeutet eine Wachstumsrate von etwa sechs Prozent und eine Verdoppelungszeit der Neuinfektionen von rund zwölf Tagen. Bis zum Jahresende würden sich die Neuinfektionen also mindesten sechsmal verdoppeln, insgesamt also über 60mal vervielfachen – wenn nichts dagegen unternommen würde.

Keine Exponentialfunktion beim Kohlendioxidanstieg

Aber nicht alles, was schnell wächst, wächst deshalb auch exponentiell, obwohl es oft behauptet wird: Die Menge an Kohlendioxid etwa, die unsere Zivilisation als Folge der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas in die Atmosphäre bläst, steigt nicht exponentiell an. Denn das hieße ja, dass unsere jährlichen Emissionen von Kohlendioxid davon abhängen würden, wie viel Kohlendioxid die Atmosphäre jeweils bereits enthält.

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Doch in Wahrheit sind wir ganz alleine selber dafür verantwortlich, dass die Mengen dieses Treibhausgases, die aus Schornsteinen, Kaminen und Auspuffen strömen, seit vielen Jahren kontinuierlich wachsen. Waren es 1950 noch etwa 6,5 Milliarden Tonnen, so waren es 2018 bereits etwa 38 Milliarden Tonnen Kohlendioxid, die in die Lufthülle der Erde gelangten. Aber schon 2010 lag der weltweite CO2-Ausstoß bei etwa 33 Milliarden Tonnen. Seither hat sich der Anstieg deutlich verlangsamt. Keine Exponentialfunktion weit und breit.

Dies ist allerdings nur ein kleiner Hoffnungsschimmer. Denn die wahre Gefahr des Treibhausgases Kohlendioxid besteht darin, dass es – einmal in die Atmosphäre aufgestiegen – dort jahrtausendelang verbleibt.

Deshalb summieren sich unsere jährlichen Kohlendioxid-Emissionen unweigerlich zu einer wachsenden Menge dieses Gases in der Atmosphäre. Selbst wenn unsere CO2-Emissionen, wie angestrebt, in den kommenden Jahren sinken würden, würden sich diese Emissionen in der Atmosphäre zu weiter wachsenden CO2-Mengen addieren.

Erst wenn wir so gut wie kein CO2-Gas mehr freisetzen, bleibt die dann vorhandene Kohlendioxid-Gasmenge in der irdischen Lufthülle gleich. Und je nachdem, wie viel Kohlendioxid die Atmosphäre dann enthalten wird, wird der zugehörige Treibhauseffekt zu einer neuen – höheren – globalen Durchschnittstemperatur führen.

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