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Refqa Abu-Remaileh leitet das Projekt „PalREAD“.

© Privat

Fünfjähriges arabisches Forschungsprojekt: Die literarische Detektivin

Refqa Abu-Remaileh, Professorin an der Freien Universität für moderne arabische Literatur und Film, erforscht die fragmentierte und unkonventionelle palästinensische Literatur.

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„Ich bin in Haifa geblieben.“ Das ließ Emil Habibi auf seinen Grabstein schreiben. Der 1996 verstorbene palästinensische Autor hatte seit dessen Gründung 1948 im Staat Israel gelebt; die Inschrift ist ein Zeichen der Resilienz: Hunderttausende Palästinenser waren zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen geworden.

Die Inschrift lässt sich aber auch als Antwort lesen: auf „Rückkehr nach Haifa“, einen Roman von Ghassan Kanafani, ebenfalls bedeutender palästinensischer Schriftsteller. Als Flüchtling hatte Kanafani Palästina nach seiner Vertreibung im Kindesalter bis zu seiner Ermordung 1972 in Beirut nicht mehr wiedergesehen, seine Erinnerungen an Haifa waren verschwommen. Dass Kanafani deshalb bei der Beschreibung der Stadt am Mittelmeer Fehler unterliefen, war für Habibi Anlass, der Darstellung Haifas in seinem literarischen Schaffen einen zentralen Platz einzuräumen.

Verbindungen fragmentierter palästinensischer Literatur

Die Bezugnahme von Habibi auf Kanafani – es ist unklar, ob die beiden Autoren sich jemals begegnet sind – ist ein Beispiel für die verblüffenden Verbindungen in der fragmentierten palästinensischen Literatur. „Manchmal muss man zwischen den Zeilen lesen und an ungewöhnlichen Orten suchen, etwa auf Grabsteinen, um die Debatten zu erkennen“, sagt Refqa Abu-Remaileh.

Die Philologin ist kürzlich zur Professorin für moderne arabische Literatur und Film an die Freie Universität Berlin berufen worden. Seit 2018 leitet sie dort „PalREAD – Country of Words“, ein durch einen Starting Grant des Europäischen Forschungsrates für fünf Jahre gefördertes Forschungsprojekt. Ziel ist eine Gesamtschau der palästinensischen Literatur seit Anfang des 20. Jahrhunderts; ein solcher Überblick fehlt bislang völlig. Für das Projekt wurde eigens eine Datenbank entwickelt. Auf ihrer Grundlage soll eine frei zugängliche Internetplattform entstehen, die nicht nur Texte und Podcasts präsentiert, sondern die literarische Entwicklungsgeschichte mit Karten und Zeitleisten auch visualisieren soll. Das Projekt ist gleichzeitig ein Experiment in den Digital Humanities.

Ohne Staat keine nationalen Archive

„Die Hauptelemente einer Nationalliteratur – Autoren, Leser, Verleger und Institutionen – existieren bei der palästinensischen Literatur nicht am selben Ort“, sagt Refqa Abu-Remaileh. Ohne eigenen Staat gibt es keine nationalen Archive, keine staatlichen Bibliotheken, keine Finanzierung – kurz: keine zentrale Einrichtung, die sich um die Entwicklung und den Erhalt der palästinensischen Literatur in ihrer Gesamtheit bemüht.

Die Arabistin trägt daher Hinweise aus vielen Orten zusammen: aus Archiven verschiedener Länder und aus privaten Sammlungen, aus literarischen Magazinen in der arabischen Welt und anderen Ländern, von Chile bis Zypern. Sie fühle sich wie eine literarische Detektivin oder eine Archäologin, die einer antiken Kultur nachspüre. Vieles sei verlorengegangen, doch immer wieder gebe es erstaunliche Funde: Alte Filmrollen von Filmen der Palästinensischen Befreiungsorganisation zum Beispiel, die seit der Belagerung Beiruts durch Israel 1982 als zerstört galten, tauchten vor Kurzem in einem Keller in Rom und in der alten Russischen Botschaft in Jordanien auf.

Die Situation der Palästinenser zwang zu Neuem

PalRead soll aufzeigen, wie die palästinensische Literatur die herkömmlichen Periodisierungen herausfordert – aber auch ihre Innovationskraft verdeutlichen. „Ihre Situation zwang die Palästinenser dazu, mit Genres zu experimentieren und etwas Neues hervorzubringen“, sagt Refqa Abu-Remaileh. Es ist diese Experimentierfreude, die sie an palästinensischer Literatur so fasziniert.

Aufgewachsen in Jordanien, war Refqa Abu-Remaileh zunächst naturwissenschaftlich interessiert, studierte aber schließlich klassische englische Literatur und Filmwissenschaft in Kanada, bevor sie sich in Oxford moderner arabischer Literatur zuwandte. In ihrer Dissertation analysierte sie unter anderem das Buch „Der Peptimist“, den Debütroman von Emil Habibi. In dem satirischen Text verbinden sich moderne literarische Technik mit mittelalterlichen arabischen Genres, Elementen von Science Fiction und einem nun berühmt gewordenen Anti-Helden als Protagonisten. Er ist durchzogen von schwarzem Humor und Wortwitz – „Peptimist“ ist eine auch im Arabischen ungewöhnliche Neuschöpfung aus „Pessimist“ und „Optimist“. „Habibis Buch war für die arabische Welt zunächst ein Schock“, sagt Refqa Abu-Remaileh. „Keiner hatte bis dahin einen solchen Roman gelesen, und niemandem ist es seitdem gelungen, einen vergleichbaren Roman zu schreiben.“

Viele Schriftsteller waren Journalisten oder politisch

Politische Themen sind allgegenwärtig in der palästinensischen Literatur. Das sei für sie – nach der Beschäftigung mit der englischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts – zunächst gewöhnungsbedürftig gewesen, sagt die Arabistin. Viele Schriftsteller waren Journalisten, andere politisch engagiert, oft marxistisch geprägt. Emil Habibi vertrat knapp zwei Jahrzehnte die kommunistische Partei in der Knesset, dem israelischen Parlament. Doch so wenig man das Politische ignorieren könne, so sehr sei es falsch, Literatur darauf zu reduzieren. In ihrem literarischen Schaffen hätten viele politische Autoren die Freiheit gefunden, die beschränkte Perspektive der Tagespolitik zu überwinden.

Was palästinensische Literatur besonders ausmache, sei die zentrale Rolle des Flüchtlings und des Exilanten, sagt Refqa Abu-Remaileh. „Über Flüchtlinge redet man gewöhnlich nur als Opfer humanitärer Krisen, aber selten als kreative Figur“, sagt die Literaturwissenschaftlerin. Für die Palästinenser, in der ganzen Welt verstreut, politisch zersplittert und lange Zeit voneinander isoliert, sei die gemeinsame, tragische Erfahrung von Vertreibung und Exil das verbindende Element. Das erleichtere vielen Menschen den Zugang zu dieser Literatur: Viele syrische Flüchtlinge etwa fänden heute Inspiration in der Poesie des berühmten palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch und den Geschichten von Ghassan Kanafani, sagt die Wissenschaftlerin.

In einer Zeit, in der so viele Menschen ihre Heimat verloren haben wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, findet die Literatur der Palästinenser weltweit Resonanz.
 

Jonas Huggins

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