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Gesteinsbrocken mit Beschriftungen liegen in einer Vitrine.

© Philipp Plum/HU Berlin

Zukunft historischer Universitätssammlungen: Die Objekte zum Sprechen bringen

Gut 1000 Sammlungen hüten die Universitäten – häufig, ohne allzu viel damit anfangen zu können. Das soll ein Berliner Erschließungsprojekt ändern.

Die Rekonstruktion eines gigantischen Urwals, Meteoriten aus der Frühzeit des Sonnensystems, pathologische Präparate aus der Zeit Rudolf Virchows und Abschrift eines altfriesischen Liedes durch Jakob Grimm: Die Ausstellung „Wunderkammern des Wissens“ zeigte vor zwei Jahrzehnten im Gropius Bau erstmals, was die rund einhundert in der Berliner Humboldt-Universität (HU) bewahrten Sammlungen bis dahin der Öffentlichkeit verborgen hatten.

„Könnte Berlin diese unglaublichen Schätze nicht auch als attraktiven Publikumsmagneten nutzen?“, fragte Jürgen Mlynek, der damalige HU-Präsident, nach dem Ende der bemerkenswert erfolgreichen Ausstellung. Inzwischen gibt es das Humboldt Forum im rekonstruierten Berliner Stadtschloss, und tatsächlich erschließt dort das Humboldt Lab – als wissenschaftliches Schaufenster der Universitäten und ihrer Exzellenzcluster – die alten Sammlungen durch exemplarische Objekte und auch durch Kostproben aus dem legendären Lautarchiv der HU.

Das Humboldt Lab versucht damit zu überbrücken, dass Universitäten heute an anderen Kennziffern gemessen werden als an der Zahl von Objekten, die sie bewahren. Doch angesichts von mehr als 1000 wissenschaftlichen Sammlungen in deutschen Unis gebe es noch so viel zu entdecken.

Ein Erschließungsprojekt der BBAW

Diese „andere Geschichte der Forschung zu erzählen“, haben sich Jochen Brüning, Mathematiker und Kulturhistoriker an der HU, Ulrich Raulff, der langjährige Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, und ihr Team zur Aufgabe gemacht – in einem Erschließungsprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

[Jochen Brüning, Ulrich Raulff (Hrsg.): Die unsichtbare Sammlung. Berlin 2021, 148 S., hier zum Herunterladen als PDF. Als Printversion zu beziehen über die Pressestelle der BBAW (Kontakt hier).

Im soeben erschienenen schmalen Band „Die unsichtbare Sammlung“ berichten die Forschenden jetzt über einen ersten Zwischenstand. Vorgenommen haben sie sich „eine Geschichte, welche die Abbrüche, Widerstände, Irrtümer und vielleicht auch die fruchtbaren Missverständnisse forschenden Verstehens zu Tage treten lässt“, wie Brüning und Raulff in der Einleitung schreiben.

Das Projekt „Eine Archäologie der Forschungsgeschichte“ soll – von der Volkswagenstiftung gefördert – eine möglichst vollständige Übersicht über die deutschen Universitätssammlungen erbringen. Ermittelt werden „Entstehung und Geltung, Art, Zahl und Zustand der Objekte, Benutzung und Lagerung“ und, nicht zuletzt, „das Schicksal und die Historie der Sammlungen“.

Ein Ausstellungsraum im Humboldt Forum mit Objekten aus Universitätssammlungen.
Beispielhaft für den Einsatz von Universitätssammlungen in neuen Museumskontexten ist das Humboldt Lab im Berliner Humboldt Forum.

© Philipp Plum/HU Berlin

Benötigen Universitäten überhaupt Sammlungen? Brauchen sie sie noch? Jedenfalls haben die Sammlungen oder mindestens ihre Mehrzahl längst einen Bedeutungswandel von der Lehrsammlung zur Unterstützung und Veranschaulichung der Lehre hin zu einer Sammlung historischer Forschungsgegenstände durchlaufen.

Besonders anschaulich wird das an den medizinischen Sammlungen von Moulagen, dreidimensionalen Darstellungen krankhaft veränderter Körperregionen. Sie stammen meist aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und gerieten mit der Verfügbarkeit detailgenauer Farbfotografien außer Gebrauch.

Die Sammlungen vor dem Vergessen bewahren

Antonia Humm und Kisten Weining haben rund 70 solcher Medizinsammlungen wie auch Sammlungen anderer Objektbereiche untersucht und feststellen können, dass dem Verlust der ursprünglichen Zweckbestimmung der Objekte ein Bedeutungszuwachs hinsichtlich „dahinterliegender“ kultureller Normen und Werte gegenüberstehen kann.

„Spätestens nun setzt die Musealisierung einer Sammlung ein, die damit verbunden ist, ihre Gegenstände vor Vergehen und Vergessen zu bewahren“, urteilen die Autorinnen. Der Übergang von der Universität ins Museum ist damit angedeutet. Naheliegend ist er bei den Abgusssammlungen antiker Skulpturen, die im 19. Jahrhundert geradezu zur Standardausstattung einer Universität zählten.

Eine Hörstation mit erklärenden Texttafeln.
Wertvolles, aber auch heikles Erbe: Eine Präsentation des Lautarchivs der Humboldt-Universität im Humboldt Lab.

© Philipp Plum/HU Berlin

In jüngerer Zeit widmen sich spezielle Studiengänge und Lehrangebote innerhalb des Fachs Kunstgeschichte der Arbeit mit Objekten, nicht zuletzt im Interesse einer besseren Berufsvorbereitung für eine spätere Tätigkeit am Museum.

Ein apartes Beispiel eines Skulpturenabgusses schildert Marc Wurich in seinem grundlegenden Aufsatz über „Sammlungen als materielle und soziale Netzwerke“. Der große Soziologe Max Weber und seine Frau Marianne besaßen den Abguss des „Wagenlenkers von Delphi“ in ihrem gastfreundlichen Heidelberger Haus: „Nach dem Tod ihres Mannes 1920 übergab Marianne Weber diesen stummen Zeugen zahlreicher, vermutlich hochinteressanter Dispute dem Heidelberger Archäologischen Institut, wo er bis heute schweigt.“ Ob ihn das Forschungsprojekt zum Sprechen bringt?

„In Rückbesinnung auf ihre genuine Funktion im Dienst akademischer Forschung und Lehre können viele Universitätssammlungen in besonderem Maße von einer niederschwelligen Zugänglichkeit und der konkreten Materialität ihrer Objekte profitieren“, gibt Wurich zu bedenken: „Aus den Sammlungen und Archiven heraus lässt sich Wissenschaft so als epistemischer und kultureller Prozess auch öffentlich sicht- und erfahrbar machen.“

Erratische Objekte und gigantische Materialsammlungen

Inwieweit aber Sammlungen unter dieser Perspektive in der Universität verbleiben oder aber in ein Museum übergehen sollten, bleibt eine offene Frage, die sich freilich kaum für alle Sammlungen gleichermaßen beantworten ließe.

Wie reich die Schätze der Unis sind und gleichzeitig wie schwer als Ganzes zu erschließen, zeigt Susanne Eberspächer in ihrem Beitrag „Erratische Objekte aus universitären Sammlungen“. Die studierte Mineralogin stieß bei ihrer „einjährigen archäologischen Forschungsreise“ auf Einzelstücke, deren Herkunfts- und Rezeptionsgeschichte zu erzählen wohl jeweils ein eigenes Forschungsprojekt erfordern würde.

Ihre Funde reichen von einem im 18. Jahrhundert in Sibirien gefunden, ersten wissenschaftlich beschriebenen Meteoriten im Mineralogischen Institut der Universität Hamburg bis zu einem hölzernen, geschnitzten Wandpaneel aus einem Versammlungshaus der Maori in Neuseeland in der Ethnologischen Sammlung der Universität Tübingen.

Faszinierende Unikate sind auch eine Kinoorgel aus dem Jahr 1931 im Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig oder das 1874 angekaufte, aus Pappmaché gefertigte Lehrmodell eines Pferdes in der Haustierkundlichen Sammlung am Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Manche Sammlungen entziehen sich wohl durch ihre gigantischen Umfänge der neuerlichen Erschließung. Am Institut für Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich-Schiller-Universität Jena etwa gibt es ein über drei Jahrzehnte aufgebautes Archiv von 500 000 sekundenkurzen Röntgenfilmen, die Bewegungsabläufe bei Wirbeltieren sichtbar machen.

Kurioses findet sich in einer Sammlung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, wo 15 handtellergroße Steine mit vorgeblichen Versteinerungen bewahrt werden, die 1726 auftauchten und alsbald als Fälschungen erkannt wurden. Nicht ohne zuvor als Gegenstand einer in Latein abgefassten Dissertation zu diesen „lapides figurati“ gedient zu haben.

Was ist zu tun? „Wir müssen uns zeigen“, fordert Raulff, „nicht nur in der universitären, sondern auch in der weiteren, bürgerlichen Öffentlichkeit.“ Bei einem Symposium im vergangenen Jahr, über das Hannah Bethke in dem Sammelband berichtet, hob er die Bedeutung der kleinen, von Streichung bedrohten Fachbereiche hervor. „Wir sind die Hüter des alten Wissens“, so Raulff.

Dieses, so lässt sich das Forschungsvorhaben quantitativ zusammenfassen, findet sich materiell in der erstaunlichen Vielzahl von über eintausend Sammlungen deutscher Universitäten.

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