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Besatzaktionen sollen den Atlantischen Stör (Acipenser oxyrinchus) wieder in seinem ursprünglichen Verbreitungsgebiet, zu dem auch das Flusssystem der Oder gehört, heimisch werden lassen.

© Patrick Pleul/dpa

Funktionale Diversität: Die Stars der Ökosysteme

Das Artensterben gefährdet Ökosysteme und ihre Services für Menschen. Dabei geht es nicht nur darum, wie viele Arten verschwinden, sondern auch welche.

Sie sind die tragischen Helden des Artenschutzes. Ihre Konterfeits und Silhouetten zieren die Logos von Organisationen, die sich ihrem Schutz und der Bewahrung ihrer Lebensräume verschrieben haben: Panda oder Berggorilla und für Special-Interest-Naturschutz auch Stör oder Indiengeier.

Solche prominenten Vertreter der Ökosysteme ihrer Weltregion tragen mehr zum Naturschutz bei als ihre charismatische Wirkung als Flaggschiffart und Wahrzeichen. „Diese Arten vor dem Aussterben zu retten wirkt sich auf den Fortbestand ihrer ganzen Ökosysteme aus“, sagt Aurèle Toussaint von der Universität Tartu in Estland.

Ein Forschungsteam um den Biologen hat jetzt in der Zeitschrift „Nature Communications“ eine Studie veröffentlicht, die zeigt, wie das Verschwinden von Säugetieren, Vögeln, Reptilien, Amphibien und Fischen die funktionale Diversität ihrer Lebensräume beeinflusst.

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Die Gärtner Edens

Während unter der „Biodiversität“ Artenvielfalt, genetische Vielfalt und die Vielfalt der Lebensräume verstanden wird, beschreibt die funktionale Diversität die Vielfalt aller Prozesse, die in einem Ökosystem ablaufen und die dazu beitragen, dass Menschen ihren Nutzen davon haben: Luft zum Atmen, etwa, Wasser zum Trinken und Nahrung.

Tiere lassen sich funktionalen Gruppen zuordnen, zum Beispiel nach ihrer Ernährungsweise. Sämtliche ihrer Verhaltensweisen bestimmen, welchen Teil der funktionalen Diversität ihres Lebensraums sie einnehmen.

„Ein bekanntes Beispiel ist der Elefant, der als ökologischer Ingenieur angesehen wird“, erklärt Toussaint. Mit ihren Aktivitäten, etwa dem Umstoßen von Bäumen oder dem Graben nach unterirdischem Wasser, aber auch schon mit der recht unvollständigen Verdauung ihrer Nahrung gestalten die großen Tiere ihre Lebensräume.

Verschwinden sie, wie es etwa in Regionen Afrikas durch Wilderei geschehen ist, kann ihre Rolle im Lebensraum nicht von einer anderen Art übernommen werden – schon, weil sie in viel zu große Fußstapfen treten müsste. In ehemals offenen Landschaften verdichtet sich dann der Baumbewuchs. Aber nicht alle Veränderungen sind so offensichtlich und ihre Folgen oft unbekannt.

Bedrohte funktionale Diversität

„Die funktionale Rolle der meisten Tierarten ist noch kaum verstanden“, sagt Toussaint. Die Studie seines Teams ist der Versuch, anhand der Eigenschaften von Wirbeltieren klarer zu umreißen, wie stark die funktionale Diversität in einer in sechs Regionen unterteilten Welt abnimmt, wenn Arten dieser Tiere dort aussterben. Denn gerade die größeren und sich langsamer fortpflanzenden Wirbeltiere sind häufig stark bedroht.

Sechs Weltregionen sind unterschiedlich stark vom Aussterben großer Wirbeltiere wie Stör, Alpensalamander, Berggorilla oder Indiengeier betroffen.
Sechs Weltregionen sind unterschiedlich stark vom Aussterben großer Wirbeltiere wie Stör, Alpensalamander, Berggorilla oder Indiengeier betroffen.

© A. Toussaint/Wikimedia Commons

Die Wissenschaftler haben Eigenschaften von rund 70 Prozent aller Wirbeltierarten, etwa 50.000 Spezies, zusammengestellt und Szenarien durchgespielt, in denen unterschiedlich viele dieser Arten aussterben. Trifft es alle, die derzeit auf der Roten Liste als bedroht geführt werden, verlieren vor allem tropische Gebiete an Artenvielfalt. Die Verluste funktionaler Diversität fallen für die sechs Weltregionen jedoch unterschiedlich aus.

Die indisch-malaiische Region wäre am stärksten vom Verlust bedrohter Arten von Säugetieren wie etwa des Menschenaffen Orang-Utan (Pongo pygmaeus) und Vögeln wie dem stark bedrohten Indiengeier (Gyps indicus) betroffen. Um bis zu 20 Prozent könnte die funktionale Diversität abnehmen, berichten die Forscher. In der paläarktischen Region, Europa, Nordafrika und Nordasien, könnte die funktionale Diversität um bis zu 30 Prozent abnehmen, wenn Arten von Reptilien, Amphibien und Fischen wie der Atlantische Stör (Acipenser oxyrinchus) aussterben.

„Effizienter globaler Artenschutz sollte die deutlichen Verluste an funktionaler Diversität berücksichtigen“, schließen die Autoren. „Welche Folgen Verluste an Biodiversität haben, ist bislang schwer zu beurteilen“, sagt Toussaint. Aber die Studie zeige auf, welche Regionen stark betroffen wären.

Der Stör-Faktor im Ökosystem

„Die Autoren weisen korrekterweise darauf hin, dass der prognostizierte Artenrückgang bei den Fischen in der paläarktischen Region dramatische Auswirkungen auf die funktionale Diversität haben wird“, sagt Jörn Gessner vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Die Artenzahl und damit die Backupkapazität sei hier gering. Funktionale Nischen würden unbesetzt bleiben oder nur zum Teil von anderen Arten genutzt werden.

Gessner leitet am IGB die Forschungsgruppe „Wiedereinbürgerung atlantischer Störe in Deutschland“. Wenn Arten wie der Stör fehlen, könne diese die Stabilität des Gesamtsystems mindern. „Aber in der Vergangenheit hat sich mit dem Rückgang unserer heimischen Störe keine massive Veränderung der Vorkommen anderer Arten eingestellt“, sagt Gessner. Dies habe sich auch beim Monitoring wieder eingesetzter Bestände gezeigt. „Sie erreichten unmittelbar nach dem Besatz vergleichbare Zuwachsleistungen wie zu ihrer Blütezeit“, berichtet der Biologe. Die dafür notwendigen Ressourcen wurden nicht oder nur teilweise von anderen Arten genutzt.

„Süßwasserfische in die Analyse einzubeziehen ist ein Novum“, hebt Martin Jung vom „International Institute for Applied Systems Analysis“ in Laxenburg, Österreich hervor. Allerdings sei die Verbreitung der Arten in vielen Regionen der Welt nicht gut erfasst, was die Aussagekraft der Schlussfolgerungen einschränke.

Wo das Leben pulsiert

Jung hat kürzlich mit weiteren Forschenden des „Nature Map Consortium“ im Magazin „Nature Ecology and Evolution“ einen Entwurf für globale Raumplanung präsentiert. Die Studie zeigte auf, wo auf der Erde Biodiversität und Klima effektiv geschützt werden können. Wenn man die Schutzgebiete gut auswählt, könnten demnach auf 30 Prozent der Landfläche der Erde 70 Prozent der Arten von Pflanzen und Wirbeltieren bewahrt werden. Außerdem würde man damit auch jeweils etwa zwei Drittel der Kohlenstoff- und Süßwasserreservoirs erhalten können.

Berggorillas sind auf relativ kleine Verbreitungsgebiete in den Virunga-Bergen und in Uganda (hier im Nationalpark Bwindi Impenetrable Forest) beschränkt und durch Wilderei und Lebensraumverlust bedroht.
Berggorillas sind auf relativ kleine Verbreitungsgebiete in den Virunga-Bergen und in Uganda (hier im Nationalpark Bwindi Impenetrable Forest) beschränkt und durch Wilderei und Lebensraumverlust bedroht.

© Patrick Eickemeier

„Global betrachtet ist Lebensraumverlust der größte Treiber von Biodiversitätsverlust“, sagt Valerie Köcke, wissenschaftliche Referentin der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. Für die Naturschutzorganisation ist die Größe von Schutzgebieten ein wichtiger Faktor. Zudem sei aber entscheidend, die lokalen Gemeinden mit einbeziehen zu können. Ohne sie haben Schutzbemühungen wenig Aussicht auf Erfolg.

Die derzeitige Landnutzung sei in der Studie des Teams um Toussaint nicht berücksichtigt, kritisiert Jung. Der praktische Nutzen für die Ausrichtung von Schutzbemühungen ist für ihn „nicht gänzlich ersichtlich“. „Die Studie zeigt aber auf, dass funktionale Diversität eine nicht zu unterschätzende Dimension ist, die wir besser verstehen und darstellen sollten.“

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