
© Kitty Kleist-Heinrich
Digitalisierung des Bildungssystems: Informatik von der Kita bis zur Uni
Die Experten-Kommission der Kultusminister fordert eine umfassende Digitalisierung von Kitas, Schulen und Hochschulen – und Informatik-Unterricht ab der 5. Klasse.
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Anstelle von Spanisch und Geografie würde eine Zwölfjährige künftig eher sechs Stunden die Woche die Programmiersprachen Python, Java oder CC+ lernen. So könnte die Schule der Zukunft aussehen, sollten die Länder der Empfehlung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz folgen, ein Pflichtfach Informatik in der Sekundarstufe I einzuführen.
Vier bis sechs Stunden pro Woche sollten in der Mittelstufe auf dem Lehrplan stehen, heißt es im Gutachten „Digitalisierung im Bildungssystem“, das die SWK am Montag veröffentlicht und in einer Pressekonferenz vorstellt. Das Gutachten lag dem Tagesspiegel vorab vor.
Die Handlungsempfehlungen des Beratungsgremiums zielen darauf ab, „das Bildungssystem erfolgreich und zukunftsfähig für die dauerhaften Anforderungen einer digitalisierten Welt aufzustellen“. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hatte die Expertenkommission ins Leben gerufen, nachdem die Große Koalition mit ihrem Plan, einen Nationalen Bildungsrat einzurichten, am Widerstand einiger Länder gescheitert war. Nun erarbeiten, zunächst bis 2027, 16 Bildungsforscher:innen aus verschiedenen Disziplinen im Auftrag der Länder, wie das deutsche Bildungswesen verbessert, zum Teil auch vereinheitlicht werden kann.
Vorrang für die Informatik
Der Einführung von Informatik als Pflichtfach dürfte eine Diskussion um die Relevanz anderer Fächer vorausgehen: Wo wird in den Lehrplänen gestrichen, um für die vier bis sechs Stunden Informatik Platz zu schaffen? Wohl auch deswegen ist das Fach aktuell erst in wenigen Ländern verpflichtend. In Sachsen ist Informatik seit 2017 in den Klassen 7 bis 10 reguläres Fach, in Mecklenburg-Vorpommern seit 2019 von der 5. bis zur 10. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen ist es zumindest für ein Jahr (in der 7. Klasse) beziehungsweise zwei Jahre (in der 5. und 6. Klasse) Pflicht.
Mit der neuen Gewichtung solle die Informatik einen gleichwertigen Rang in der Gruppe der MINT-Fächer erlangen, heißt es im Gutachten. Dass dafür bislang noch nicht genug getan wird, zeige die KMK-Statistik für das Schuljahr 2020/2021: Nur rund 4000 Schüler:innen hatten Informatik als Profilfach oder Leistungskurs belegt. Darunter seien wiederum nur etwa 600 Mädchen gewesen (15 Prozent) – eine niedrigere Quote als im Fach Physik im selben Jahr (25 Prozent).
Es fehlen wie immer die Lehrkräfte
Großen Nachholbedarf gibt es angesichts der hoch gesteckten Digitalisierungsziele auch in der Lehrkräfteausbildung. „Im Jahr 2020 haben in Deutschland lediglich 546 Studierende ein Lehramtsstudium Informatik begonnen“, schreiben die Bildungsforschenden. Abgeschlossen hätten im selben Jahr sogar nur 117 Studierende. Um den Bedarf an Informatiklehrkräften zu decken, empfiehlt die Kommission das Ein-Fach-Lehramt für Informatik einzuführen und weitere Qualifikationsprogramme für Quer- und Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger ins Lehramt. Insbesondere der Quereinstieg für Frauen und für Zugewanderte mit einem Abschluss in IT-Berufen solle erleichtert werden, um die Lücke zu schließen, bis durch eine frühzeitige Förderung bessere Zahlen erreicht sind.
Eine große Bildungsoffensive für mehr digitale Kompetenz legt das Gutachten auch für die Ausbildung von Lehramtsstudierenden in allen Bereichen nahe. Eine Umfrage in der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 habe gezeigt, dass Medienkompetenz und digitale Skills im Lehramtstudium noch kaum verbindlich seien. Nach dem Vorbild von NRW könnten Verbundprojekte eingerichtet werden. Dort setzen sich unter dem Motto „Communities of Practice“ Vertreter:innen von Unis mit Lehramtsangebot, aus Ministerien und Kommunen an einen Tisch, um Kurse und Softwaretools zu entwickeln.
Digital erweiterte Hochschullehre
Ob interaktive Medien und virtuelle Lernräume in der Hochschullehre eine Rolle spielen, ließe sich aufgrund der „Freiheit der Lehre“ schwer erfassen, hält das SWK-Gutachten fest. Standard sind mittlerweile in nahezu allen Unis Lernmanagementsysteme – also Plattformen, auf denen Dozent:innen Texte, Links und Videos zur Verfügung stellen, Aufgaben vergeben und bewerten können. Bei der digitalen Erweiterung des Unterrichts gibt es laut SWK aber noch ein großes Potenzial, insbesondere bei der Nutzung von Videos und Simulationen.
Ein Musterbeispiel, von dem es mehr geben sollte, liefere die Uni Tübingen. Dort können Medizinstudierende am Institut für Klinische Anatomik und Zellanalytik Operationen an Patienten, die dem zugestimmt haben, auf einer Plattform live mitverfolgen oder sich im Nachhinein ansehen. Eine im Gutachten zitierte Studie zu den Lernerfolgen durch die Operationsplattform zeigte zwar, dass die Anatomiekenntnisse der Nutzer:innen im Vergleich zu einer normalen Vorlesung nicht besser waren. Die Video-OPs kamen bei den Studierenden aber deutlich besser an, da sie anschaulicher und verständlicher seien als die reine Theorie.
Man kann auch anhand von ,Mensch Ärgere Dich Nicht’ algorithmisch denken lernen.
Olaf Köller, Co-Vorsitzender der SWK
Gerade dort also, wo die Massen an Studierenden normalerweise keinen Zugang zur Praxis oder einem bestimmten Ort haben oder wo es ethisch nicht vertretbar ist, kann die virtuelle erweiterte Realität für die Hochschullehre sinnvoll sein. Als weiteres Beispiel nennt die SWK „Notfallszenarien“ oder „3D-Rekonstruktionen historischer Gebäude“.
In einer Pressekonferenz zur Veröffentlichung der SWK-Empfehlungen am Montagmorgen sagte Ulrike Cress, Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM) und Vorsitzende der Arbeitsgruppe des Gutachtens, es sei im Bereich der Hochschulen auch notwendig, gezielt „Anreize für die digitale Lehre“ zu setzen, weil diese in der Vorbereitung sehr aufwendig sei. Ein solcher Anreiz könne etwa eine Reduktion des Lehrdeputats sein.
Mehr Technik in der Kita
Selbst unter den ganz Kleinen gilt es dem Gutachten zufolge, die „elementarinformatische“ Bildung besser zu fördern. Beklagt wird eine weitgehend „ablehnende Auffassung gegenüber digitalen Medien“ unter den Erzieher:innen. Allerdings dürften sich Eltern fragen, ob die Empfehlungen der SWK darauf hinauslaufen, jedem Zweijährigen in der Kita gleich ein Tablett in die Hand zu drücken.

© Ralf Hirschberger/dpa
Eine berechtige Sorge? Nein, stellt Olaf Köller, Co-Vorsitzender der SWK sowie Direktor am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, klar. Es gehe nicht darum, Kleinkinder vor dem Bildschirm abzustellen. „Es gibt bereits im Kitabereich sehr gute analoge Lernangebote für Elementarinformatik, wir nennen das Unplugged-Material. Man kann auch anhand von ,Mensch Ärgere Dich Nicht’ algorithmisch denken lernen.“
Nicht nur in der frühkindlichen Digitalbildung wirft das Gutachten indes noch viele Fragen auf: an erster Stelle die der Finanzierung., aber auch die Herausforderung, die großen Visionen im vielgliedrigen föderalen Bildungssystem umzusetzen. Dazu zählen die von der SWK gewünschten länderübergreifenden „Zentren für digitale Bildung“, die frei verfügbare Software, Tools und Lehrkonzepte für das Lehrpersonal zu entwickeln sollen. Um die vorgeschlagenen Zentren, die nötigen Infrastrukturen und Ausbildungsverbesserungen voranzutreiben, legt die SWK die Kooperation mit EdTech-Unternehmen nahe. Diese seien nötig, um den massiven Entwicklungsaufwand stemmen zu können.
Kritik am Bund wegen mangelnder Finanzierung
Deutlich macht die Kommission schließlich auch, dass die Digitalisierung des Bildungssystems nicht in wenigen Jahren zu schaffen ist, sondern vielmehr ein langer Prozess sein wird. Natürlich käme es auch auf die Bereitschaft der Erzieher und Lehrinnen an, sich auf die neuen Medien einzulassen und in ihre Arbeit zu integrieren.
Inwiefern der Fernunterricht in der Coronakrise die Digitalisierung der Schulen und der Hochschulen nachhaltig vorangetrieben hat, analysieren die Expert:innen nicht. Es heißt lediglich, „die in den letzten Jahren – durch die Corona-Pandemie beschleunigten – Anstrengungen der Länder“ gelte es nun „mit Hilfe des Gutachtens zu prüfen und weiter voranzubringen“.
Auf die Frage, wer dies wie prüfen solle, antwortete KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU), Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, ausweichend: Die Kommission habe sich in erster Linie auf die pädagogischen Inhalte der Digitalisierung konzentriert. Prien verwies mit Blick auf bereits angestoßene Initiativen auf die Digitalen Kompetenzzentren des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Im Juni diesen Jahres hatte das BMBF bekannt gegeben, den Aufbau von „vier Kompetenzzentren für digitalen und digital gestützten Unterricht“ mit je verschiedenen Fachschwerpunkten bis 2025 zu fördern. Dass diese Initiativen nur für drei Jahre finanziert würden, sei, so Prien, nicht ausreichend.
Ties Rabe (SPD), Hamburgs Schulsenator und KMK-Koordinator der SPD-geführten Länder, äußerte sich bedenklich darüber, wie die anfallende Hardware-Ausstattung für Schulen und Hochschulen finanziell zu realisieren sei. Er nehme vermehrt Sorgen wahr, der Bund plane offenbar künftig keine großzügigen Mittel mehr für die Digitalisierung.
Rabe betonte, es dürfte für die Länder bereits schwierig werden, „die minimale bestehende Infrastruktur zu erhalten“, indes sei das Ziel doch, „sie weiter auszubauen“. Als Rechnungsbeispiel für die Anschaffungskosten führte Rabe eine Studie der Bertelsmann Stiftung von 2017 an, die von 330 Euro Kosten pro Schüler für das digitale Lernen ausgehe. Orientiere man sich daran, könnten sich die Investitionskosten für die von der SWK empfohlene Offensive allein für diesen Bereich bei rund zehn Millionen Schüler:innen auf „mindestens 3,3 Milliarden“ belaufen.
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