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Allein in Deutschland lebten bis Ende des Jahres 2023 rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Die häufigste Demenzursache ist die Alzheimer-Erkrankung.

© imago/Westend61

Dritte Alzheimer-Therapie in Sicht?: Was die Tablette Blarcamesin wirklich kann

Nach den Antikörpern Lecanemab und Donanemab wird nun ein weiteres Alzheimer-Medikament geprüft: Blarcamesin soll das Gehirn zur Selbstreinigung anregen – und die Krankheit bremsen. Was über Wirksamkeit, Risiken und Zulassung bekannt ist.

Von Walter Willems

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Während die Aufmerksamkeit in diesem Jahr auf die ersten zugelassenen Alzheimer-Antikörper gerichtet war, läuft fast unbemerkt ein weiteres Verfahren: Seit Dezember 2024 prüft die Europäische Arzneimittel-Agentur einen Wirkstoff, der Alzheimer über ein völlig anderes Prinzip bekämpfen soll. Blarcamesin, entwickelt vom US-Unternehmen Anavex, soll die Selbstreinigung der Nervenzellen anregen – und könnte das Fortschreiten der Krankheit ähnlich stark bremsen wie die viel diskutierten Antikörper Lecanemab und Donanemab.

Schaut man sich die Ergebnisse der Zulassungsstudie an, scheint die Effektstärke ähnlich zu sein wie bei den zugelassenen Antikörpern. Demnach bremst Blarcamesin in der Frühphase das Fortschreiten der Erkrankung um rund ein Drittel. Aber während die Antikörper per Infusion verabreicht werden und viele Nebenwirkungen haben, scheint das als Tablette genommene Blarcamesin nicht nur einfacher einzunehmen, sondern auch besser verträglich zu sein. Zumindest auf den ersten Blick.

Allein in Deutschland lebten bis Ende des Jahres 2023 rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Die häufigste Demenzursache ist die Alzheimer-Erkrankung. Mit der demografischen Entwicklung steigt die Zahl. Bei der Krankheit, deren genaue Ursache noch nicht abschließend geklärt ist, sterben zunehmend Nervenzellen im Gehirn ab. Das führt zu Gedächtnisstörungen und zunehmenden Problemen, den Alltag zu bewältigen.

Plaques als Hauptverdächtige

Gegen die nach wie vor unheilbare Erkrankung sind in Europa seit diesem Jahr erstmals zwei ursächliche Therapien zugelassen: In der Frühphase können die beiden Wirkstoffe Lecanemab und Donanemab das Fortschreiten der Erkrankung Studien zufolge um etwa ein Drittel bremsen. Beide Antikörper sollen in den Hirnzellen an das Protein Amyloid-beta (Aß) binden und dessen giftige Ablagerungen direkt entfernen. Diese sogenannten Plaques gelten seit Jahren als Hauptverdächtige für die Entstehung der Erkrankung.

Nachteile der Antikörper sind zum einen die aufwendige Verabreichung alle zwei Wochen per Infusion und zudem die beträchtlichen Nebenwirkungen wie etwa Hirnödeme. Daher sind regelmäßige Hirnscans per MRT erforderlich. Zudem sind Menschen mit bestimmten Genvarianten von der Therapie ausgeschlossen. Experten schätzen die Zahl der für die Behandlung infrage kommenden Patientinnen und Patienten auf bundesweit maximal 12.000.

Blarcamesin wirkt ganz anders

Der Wirkstoff Blarcamesin beruht auf einem anderen Prinzip: Er soll die Zellen vor allem über die Aktivierung des Sigma-1-Rezeptors zur sogenannten Autophagie anregen, also generell zum Abbau zellschädigender Stoffwechselprodukte. Dazu zählt neben Amyloid-beta unter anderem auch das Protein tau, der zweite Hauptverdächtige bei der Fahndung nach der Alzheimer-Ursache, wie Timo Grimmer vom Universitätsklinikum der Technischen Universität München erklärt. Der Psychiater gehört zum wissenschaftlichen Beirat von Hersteller Anavex und ist Co-Autor der Zulassungsstudie, deren Resultate Anfang des Jahres im „Journal of Prevention of Alzheimer’s Disease“ („JPAD“) veröffentlicht wurden.

Die Studie, an der allein in Deutschland fünf Kliniken beteiligt waren, untersuchte insgesamt etwa 460 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von 60 bis 85 Jahren mit Alzheimer im Frühstadium. Zwei Drittel von ihnen nahmen einmal pro Tag eine Tablette mit Blarcamesin (Anavex 2-73) oder aber ein Scheinpräparat, über insgesamt elf Monate. Tests ergaben, dass das Mittel das Fortschreiten der Krankheit im Vergleich zum wirkungslosen Placebo um etwas mehr als ein Drittel bremste. Häufigste Nebenwirkung waren der Studie zufolge Schwindel und Verwirrtheit.

12.000
Patientinnen und Patienten kommen in Deutschland schätzungsweise für eine Antikörpertherapie gegen Alzheimer infrage. Bei Blarcamesin könnten es deutlich mehr sein, sagen die Studienautoren.

„Die orale Gabe von Blarcamesin könnte eine neue Behandlung der frühen Alzheimer-Krankheit sein und zusammen mit oder alternativ zu Medikamenten gegen Aß eingesetzt werden“, schreibt das Team um Marwan Sabbagh vom Dementia Centre in Melbourne. Die Effektstärke sei etwa mit jener der zugelassenen Alzheimer-Antikörper vergleichbar, sagt der Münchner Co-Autor Grimmer. Um das genau klären zu können, bräuchte man allerdings einen Direktvergleich der Präparate.

Wird es zur Zulassung kommen?

Grimmer schätzt, dass in Deutschland etwa 200.000 Menschen für die Therapie infrage kommen könnten. Nach eigenen Angaben hat Anavex die Zulassung des Wirkstoffs bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) im vorigen Dezember beantragt. Zum Stand des Verfahrens ist nichts bekannt, allerdings war für Dienstag (11.11. November) eine mündliche Anhörung dazu einberaumt.

Hinter dem Wirkstoff steht kein großer Pharmakonzern. Dementsprechend haben die Studien auch nicht die Größenordnung wie bei den Antikörpern.

Emrah Düzel, Neurologe am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Magdeburg

Doch warum fanden weder die Studienresultate noch der Zulassungsantrag bisher viel öffentliche Aufmerksamkeit? „Hinter dem Wirkstoff steht kein großer Pharmakonzern“, vermutet der Neurologe Emrah Düzel vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Magdeburg. „Dementsprechend haben die Studien auch nicht die Größenordnung wie bei den Antikörpern.“

Hinter Lecanemab steht der japanische Hersteller Eisai, hinter Donanemab der Pharmakonzern Eli Lilly. Blarcamesin wird dagegen von dem kleinen Unternehmen Firma Anavex mit Sitz in New York City produziert. Doch es gibt wohl auch andere Gründe.

Mehr Teilnehmer, längere Studiendauer

So hatten die Zulassungsstudien für Lecanemab und Donanemab nicht nur wesentlich mehr Teilnehmer, sie liefen auch länger – 18 Monate, bei Blarcamesin waren es 11 Monate. Zudem wurden sie ranghoch publiziert – im „New England Journal of Medicine“, der wohl renommiertesten medizinischen Fachzeitschrift. Die Studie zu Blarcamesin erschien im deutlich kleineren „Journal of Prevention of Alzheimer’s Disease“.

Über eine positive Bewertung des Zulassungsantrags würde ich mich wundern.

Jörg Schulz, Neurologe und Sprecher der Kommission Demenzen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN)

Fast ein Drittel (32 Prozent) der Menschen in der Blarcamesin-Gruppe brach dem Fachartikel zufolge die Behandlung ab, im Vergleich zu nur etwa sieben Prozent in der Placebo-Gruppe. Und im Mai kritisierte der Hirnforscher Jesse Brodkin vom britischen Unternehmen Behavioral Instruments die von Anavex publizierten Daten in einem offenen Brief zudem als unzureichend und unplausibel. Denn der Schutzeffekt der Substanz tritt den maßgeblichen Daten zufolge erst ganz am Ende des Untersuchungszeitraums auf – vorher nicht.

Zeitlicher Verlauf ist „unplausibel“

Dieser zeitliche Verlauf sei „unplausibel“, sagt auch der Neurologe Jörg Schulz vom Universitätsklinikum Aachen. Effekte seien nur zum letzten Untersuchungszeitpunkt nach 48 Wochen zu sehen, aber zu keinem der vorher untersuchten Zeitpunkte. „Das reicht, um eine Hypothese aufzustellen“, erläutert der Sprecher der Kommission Demenzen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). „Aber über eine positive Bewertung des Zulassungsantrags würde ich mich wundern. Der therapeutische Effekt muss vernünftig gezeigt werden – und da fehlt einfach etwas.“

Studien im Labor und auch an Tieren hätten zwar durchaus Hinweise darauf erbracht, dass die Autophagie fehlgefaltete Proteine, die bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen wie etwa Alzheimer eine Rolle spielen, aus Zellen entfernen und dadurch Nervenzellen schützen könnte, erklärt Schulz. Für den Menschen stehe ein Nachweis für einen Nutzen bislang aber aus.

Möglicherweise könnte sich das in der Zukunft ändern: Hersteller Anavex verweist auf seiner Website auf eine ganze Reihe von Studien mit dem Wirkstoff auch bei anderen Erkrankungen. Dazu zählen etwa Parkinson, die Parkinson-Demenz sowie diverse genetisch bedingte neurologische Entwicklungsstörungen wie Rett-, Angelman- und Fragiles-X-Syndrom (FXS). (dpa)

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