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Unbeschwert. In staatlichen Schulen galt bislang ein Kopftuchverbot, das in den vergangenen Jahren bereits für Universitäten und andere öffentliche Einrichtungen aufgehoben wurde. Ab sofort können Mädchen das Kopftuch schon ab der 5. Klasse tragen.

© AFP

Kopftuch statt Piercings in der Türkei: Erdogans fromme Schüler

Die Türkei verbietet Jugendlichen Piercings und Tattoos – aber erlaubt das Kopftuch im Unterricht. Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan warnen vor einer Islamisierung des Bildungssystems.

Kopftuch statt Piercing: Zwei aktuelle Entscheidungen der islamisch-konservativen Regierung in der Türkei zum äußeren Erscheinungsbild von Millionen von Schülerinnen und Schülern beunruhigen Kritiker der Erdogan-Regierung. Per Erlass hat die Regierung am vergangenen Wochenende Jugendlichen verboten, mit Tattoos, Piercings oder gefärbten Haaren in der Schule zu erscheinen. Gleichzeitig erschien im Amtsblatt ein Dekret, nachdem künftig schon zehn- und elfjährige Mädchen ab der fünften Klasse im Unterricht das islamische Kopftuch tragen dürfen. Regierungsgegner befürchten nun eine beschleunigte Islamisierung des Bildungssystems.

Das Thema wühlt das Land auf. Sezen Aksu, eine der bekanntesten Sängerinnen der Türkei, kritisierte die Kopftuchentscheidung am Montagabend vor mehreren tausend Fans bei einem Konzert in Istanbul und nahm gegenüber der Führung in Ankara um Präsident Recep Tayyip Erdogan kein Blatt vor den Mund: „Statt uns das Kopftuch aufzuzwingen, solltet ihr lieber eure Triebe im Zaum halten, ihr Hornochsen.“

Das Kopftuch war lange in öffentlichen Institutionen verboten

Das Kopftuch war in öffentlichen Institutionen der Türkei lange verboten, obwohl zwei von drei Türkinnen ihr Haar verhüllen. Es galt bei den bis zum Jahr 2002 herrschenden Eliten als Symbol des politischen Islam und der Rückständigkeit. Erdogans Partei AKP begann nach ihrem Regierungsantritt vor zwölf Jahren, das zu ändern. Die Partei beendete die politische Einflussnahme der früher allmächtigen und strikt säkularen Militärs und förderte einen Elitenwechsel, bei dem die säkularistischen Führungsschichten von neuen, konservativeren Kreisen abgelöst wurden.

In den vergangenen Jahren schaffte Erdogan Schritt für Schritt die Kopftuchverbote an Universitäten, im Parlament und in den Gerichten ab, was von seiner konservativen Anhängerschaft begeistert aufgenommen wurde. Schülerinnen an öffentlichen Schulen aber war die Kopfbedeckung weiterhin nicht erlaubt – bis zum aktuellen Dekret. Dabei betonen Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, sie wollten lediglich Chancengleichheit herstellen. Niemand werde gezwungen, ein Kopftuch anzulegen.

Erdogan will eine "fromme Jugend" formen

Gegner des islamisch-konservativen Staatschefs schlagen dennoch Alarm. Sie erinnern sich nur zu gut daran, dass Erdogan vor zwei Jahren das Ziel verkündete, in der Türkei eine „fromme Jugend“ zu formen. „Soll die Jugend etwa drogenabhängig sein? Wollen Sie, dass diese Jugend gegen die Erwachsenen aufbegehrt?“, fragte er damals seine Kritiker. Es sei möglich, fromm und gleichzeitig modern zu sein.

Jetzt rücke Erdogans Ziel einer frommen Jugend näher, sagen die Gegner der Regierung nach der jüngsten Kopftuchentscheidung. Die Oppositionspartei CHP sprach von einem Angriff auf die Grundfesten der säkularen Republik.

Schon fordern eine islamistische Lehrergewerkschaft und die religiöse Presse das Verbot gemischt-geschlechtlicher Schulklassen. Das islamistische Blatt „Yeni Akit“, dessen Chefredakteur Hasan Karakaya zu Erdogans Bewunderern zählt, titelte, der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen leiste sexuellen Übergriffen Vorschub. Nach Angaben der CHP mischt Präsidentensohn Bilal Erdogan bei den Bestrebungen zur Geschlechtertrennung im Klassenraum kräftig mit.

Religiöse Oberschulen werden bevorzugt

Damit hören die Vorwürfe gegen die Regierung nicht auf. Kritiker beklagen, dass Ankara die Rolle religiöser Oberschulen im Bildungssystem zum Nachteil normaler Gymnasien fördere. Für Kritik sorgte auch eine Entscheidung von Bildungsminister Nabi Avci, Schulen die Einrichtung von Gebetsräumen zu erlauben.

Unter Intellektuellen macht sich ein ungutes Gefühl breit. „Ich glaube nicht, dass eine Zehnjährige eine freie Entscheidung über ihren Glauben treffen kann“, sagt ein Dozent an der Marmara-Universität in Istanbul, der sich in der Gezi-Protestbewegung gegen Erdogan engagiert. Die Freigabe des Kopftuches für die Schülerinnen sei „ein Instrument, um die junge Generation an die Ungleichheit und den Sexismus zu gewöhnen, die sie später in der Gesellschaft erwarten“, sagte der Dozent dem Tagesspiegel. Erdogan und die Regierung verfolgen seiner Meinung nach eine islamische Agenda. „Wenn sie nicht auf starken Widerstand stoßen, werden sie möglicherweise so weit gehen, die gemischt-geschlechtliche Bildung abzuschaffen.“

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs polarisiert

Ermutigend wirkt da eine Demonstration der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen in der vergangenen Woche in Istanbul. Rund 300 Mitglieder gingen gegen die ihrer Ansicht nach gefährlichen Tendenzen im Bildungswesen auf die Straße. Kurz darauf kam dann die Kopftuchentscheidung, die von der Gewerkschaft umgehend verdammt wurde. Unmündige Schülerinnen könnten den Entschluss für oder gegen das Kopftuch nicht alleine treffen, sondern seien ab sofort dem Druck von Eltern, konservativen Gesellschaftskreisen und der islamisch geprägten Regierung ausgesetzt.

Es passt ins Bild, dass Erdogan gerade in diesen Tagen die Bedeutung des islamisch-sunnitischen Religionsunterrichts in staatlichen Schulen betont. Er legt sich dabei auch mit dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg an, der von Ankara eine Neuformulierung der Regeln für den Religionsunterricht verlangt. Mitte September hatte das Gericht die Türkei aufgefordert, das Pflichtfach Religion abzuschaffen. Schüler sollten die Möglichkeit erhalten, sich vom Religionsunterricht befreien zu lassen, ohne dass ihre Eltern ihre Religionszugehörigkeit offenlegen müssten. Die Richter betonten, der Staat müsse in religiösen Dingen neutral bleiben. Ihre Entscheidung fiel nach einer Klage alevitischer Türken gegen den Pflichtunterricht.

Die Türkei hat ganz andere Probleme, sagen Kritiker

Als Mitglied des Europarates ist die Türkei an die Entscheidungen aus Straßburg gebunden. Doch Erdogan erklärte jetzt, das Urteil sei „falsch“. Würde die Türkei es umsetzen, entstehe eine Lücke, die von Drogen und Gewalt gefüllt werde. Unter dem derzeitigen System können sich nur Schüler der anerkannten religiösen Minderheiten – Juden, Armenier und Griechen – vom staatlichen Religionsunterricht befreien lassen. Die Aleviten, Anhänger einer liberalen Spielart des Islam, müssen dagegen wie die Kinder der sunnitischen Mehrheit am herkömmlichen Religionsunterricht teilnehmen.

Ob Erdogans Bemühungen um eine „fromme Jugend“ am Ende Erfolg haben werden, bleibt abzuwarten. Dass der Kulturkampf im Bildungssystem gut für die Schüler und für das Land sei, könne aber niemand behaupten, meint Taha Akyol, Kolumnist bei der Zeitung „Hürriyet“. Die Türkei habe ganz andere Probleme als das Kopftuch in den Klassenzimmern, schreibt Akyol. Das Bildungssystem versage bei der Kernaufgabe, der Jugend qualifiziertes Wissen zu vermitteln. In türkischen Schulen und Universitäten wird häufig nach wie vor viel Wert auf das Auswendiglernen gelegt, weniger auf die Entwicklung von Selbstständigkeit und Kreativität bei Schülern und Studenten.

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