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Konzentriert. Schülerinnen in Burkina Faso. Mädchen sind bei der Bildung oft besonders benachteiligt.

©  Issouf Sanogo/AFP

Studie des Berlin-Instituts: Extreme Bildungsarmut in der Sahelzone

Nirgendwo gibt so viele Analphabeten wie südlich der Sahara. Doch Europa investiert dort kaum in Schulen und Lehrerbildung - dabei würde das Fluchtursachen wirksam bekämpfen.

Wie können Fluchtursachen in Afrika bekämpft werden? Diese Frage steht aus der Sicht der Europäer oft im Mittelpunkt, wenn es um den Kontinent geht. So auch beim aktuellen EU-Afrika-Gipfel in der Elfenbeinküste. Gesprochen wird über Grenzsicherung, Wirtschaft und klassische Entwicklungspolitik wie das Fördern großer Infrastrukturvorhaben.

Für Reiner Klingholz, den Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, kommt in der Debatte eine eigentlich naheliegende Sache dagegen zu kurz: „Über Bildung wird viel zu selten gesprochen, auch von den Politikern.“ Dabei wäre eine Verbesserung des Bildungsstandes der zentrale Hebel, um den Wohlstand in der Region zu heben.

Zwar hat sich in Afrika einiges getan: So hat sich der Anteil der Kinder, die keinen Zugang zur Schulbildung haben, zwischen 2000 und 2015 halbiert. Doch eine große Region ist davon ausgenommen. Die Sahelzone, also jene Länder direkt unter der Sahara, ist die ärmste Region der Welt – und die, in der besonders wenige Menschen lesen und schreiben können. Von einer „Bildungskatastrophe“ spricht Klingholz.

Schulbesuch in der Sahel-Zone.
Schulbesuch in der Sahel-Zone.

© Ulla Schili/Tsp

Dabei sind diese Länder entscheidend, wenn es um Fluchtbewegungen aus Afrika geht: Als Transitländer nach Europa, als Länder, in denen Menschenhandel besonders krass ausgeprägt ist und wo radikale politische Gruppierungen stärker werden.

Wie sieht es dort mit der Bildung aus, wie kann sie verbessert werden? Das Berlin-Institut hat dazu am Mittwoch eine Studie vorgestellt. Hier zentrale Befunde.

ANALPHABETISMUS

Die Zahl der Menschen in der Sahelzone, die nicht lesen und schreiben können, ist enorm hoch. Rund 70 Millionen sind nach Schätzungen der Unesco Analphabeten, nirgendwo auf der Welt ist die Alphabetisierungsquote noch geringer. Am dramatischsten ist die Lage in Niger, wo nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung lesen und schreiben kann.

Aber selbst im vergleichsweise reichen Nigeria, wegen seiner Ölvorräte nach Südafrika die zweitgrößte Volkswirtschaft des Kontinents, liegt der Anteil der Analphabeten bei fast der Hälfte der Bevölkerung. Die Humangeografin Alisa Kaps vom Berlin-Institut hält es für besonders besorgniserregend, dass auch bei den Jüngeren im Alter von 15 bis 24 kein Fortschritt zu erkennen ist. Das sei in vielen Ländern Afrikas anders, wo die Quote der Analphabeten von Generation zu Generation sinke.

SCHULBESUCH

Rund ein Drittel der Kinder besucht in der Region nie eine Schule. In Mali werden sogar 44 Prozent der Kinder nicht eingeschult. Aber selbst wenn das passiert, „bedeutet das nicht, dass Kinder eine entsprechende Bildung bekommen“, sagt Kaps. Viele verlassen die Schulen vor dem Ende der Primarzeit.

So können im Niger am Ende der Grundschulzeit neun von zehn Kindern nicht lesen und schreiben. In Mali kommt nur jedes vierte eingeschulte Kind in die Sekundarstufe, nur 14 Prozent der Eingeschulten erlangen einen mittleren Schulabschluss. Mädchen sind in allen Ländern besonders benachteiligt. Wie sehr sich die politischen Krisen der Region auf die Schule auswirken, wurde schlaglichtartig deutlich, als die Terrormiliz Boko Haram in Nigeria 200 Schülerinnen entführte.

GRÜNDE FÜR DIE MISERE

Auf dem Land müssen Kinder oft kilometerweit in ihre Schulen laufen. Diese sind schlecht ausgestattet, Lehrbücher fehlen, Lehrkräfte sind unzureichend ausgebildet. Kinder werden von ihren Familien als Arbeitskräfte benötigt, Mädchen früh verheiratet. Die hohe Arbeitslosigkeit bringt es mit sich, dass Eltern mit einem Schulbesuch keine Jobchancen für ihre Kinder verbinden. Gründe für die Misere gibt es also viele – und ebenso viele Hebel, an denen man ansetzen könnte, um das Bildungsniveau zu verbessern.

Wo dieses steigt, wachsen auch die Volkswirtschaft und damit die Einkommen, verbessert sich die Gesundheit der Menschen. Nicht zuletzt trägt mehr Bildung dazu bei, die Geburtenrate zu senken. Der Demograf Wolfgang Lutz verweist auf das Beispiel asiatischer Tigerstaaten. Südkorea oder Taiwan etwa waren in den 1950er noch ärmer als die Sahelzone. „Die investierten aber massiv in die Bildung der breiten Masse, noch bevor die Wirtschaft wuchs“, sagt Lutz. Dass dies in Afrika nicht gelang, liegt für Lutz auch an der kolonialen Vergangenheit. Die europäischen Kolonialmächte hatten kein Interesse, breite Bevölkerungsschichten auszubilden – „und viele Machthaber, die nach der Unabhängigkeit kamen, interessierte das auch nicht“.

WAS EUROPA TUN KANN

Europäische Politiker wünschten sich bei der Entwicklungshilfe meistens kurzfristige Erfolge, sagt Institutsleiter Klingholz – auch das sei ein Grund, warum Mittel oft in prestigeträchtige Infrastrukturprojekte fließen anstatt in Bildungsvorhaben, bei denen man einen langen Atem benötige. Klingholz fordert daher, Entwicklungspartnerschaften immer um bildungspolitische Bestandteile zu ergänzen.

Aber auch bei bestehenden Bildungspartnerschaften müsse umgedacht werden. Deutschland etwa fördere viele afrikanische Studierende an deutschen Unis. Das sei zwar aller Ehren wert, sagte Klingholz. Die Mittel würden aber genauso vor Ort gebraucht, in der Lehrerausbildung und vor allem in der Grundschule. Hier müssten neue Prioritäten gesetzt werden. Das sei im ureigenen europäischen Interesse. Denn wenn die Sahelzone den Teufelskreis aus schlechtem Bildungs- und Gesundheitssystem, schwacher Wirtschaft und politischer Fragilität nicht durchbricht, würden noch viel mehr Menschen ihre Heimat verlassen wollen.

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