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Wiedervereinigung: Frage der Gerechtigkeit

Als die Mauer fiel und Deutschland wiedervereinigt wurde, bedeutete das auch für die Wissenschaft einen gewaltigen Umbruch. Binnen weniger Jahre wurden an den Hochschulen in Ostdeutschland tausende Wissenschaftler ausgetauscht.

Allein an der Berliner Humboldt-Universität wurden innerhalb von fünf Jahren 500 Professoren ausgewechselt. Viele Stellen wurden ganz gestrichen, so blieben in der außeruniversitären Forschung im Osten nur wenig mehr als die Hälfte der Stellen übrig. „Noch nie wurden in so kurzer Zeit so viele Wissenschaftler von Hochschulen verwiesen, nicht einmal nach 1945“, sagte der Berliner Historiker Jürgen Kocka von der FU jetzt bei einer Diskussion in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, bei der Bilanz gezogen wurde.

Hat die Wissenschaft die Chance der Wiedervereinigung genutzt? Gerade die Entlassung vieler ostdeutscher Wissenschaftler bewege viele noch immer, denn es gehe um „Lebensgeschichten“, sagte Kocka. Wie sehr die Wende auch heute aufwühlen kann, zeigten die Reaktionen im Publikum auf eine Bemerkung des ehemaligen FU-Präsident Peter Gaehtgens. „Die Zahlen erschrecken“, sagte Gaehtgens. Es stelle sich „die Frage der Gerechtigkeit“. Seien nicht viel zu viele ostdeutsche Forscher nach der Wende „eliminiert“ worden?

Dagegen verwahrte sich vor allem der HU-Chemiker Joachim Sauer. Der Ehemann von Angela Merkel forschte 1989 am Zentralinstitut für Chemie der Akademie der Wissenschaften in Adlershof. Angesichts der Tatsache, dass 1995 immerhin 55 Prozent der Professoren an ostdeutschen Unis tatsächlich auch aus dem Osten stammten, sei es für ihn vielmehr „ein Wunder“, dass man so viele unbelastete Forscher gefunden habe. Er sei immer für eine Auflösung der großen DDR-Akademie gewesen, in der ein Großteil der Forschung stattfand: „Alle, die nicht in der Partei waren, passten auf ein Sofa.“

Die Ingenieurin Dagmar Schipanski, die kurz nach der Wende die Leitung der TU Ilmenau übernahm und später Wissenschaftsministerin in Thüringen wurde, antwortete auf Gaehtgens: „Mir ist es zuwider, wenn Westdeutsche uns vorschreiben wollen, was wir in der DDR zu tun gehabt hätten.“ Der Aufarbeitungsprozess sei sehr wichtig für das Selbstverständnis der Forscher gewesen. Schließlich seien „selbst an einer Technischen Universität die Lehrstühle nicht nur nach fachlichen Kriterien“ vergeben worden, sondern auch nach Gesinnung. Die Forschungsziele seien von der Partei vorgegeben worden. „Die Freiheit von Forschung und Lehre existierte nicht.“

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, der zu Wendezeiten am Zentralinstitut für Philosophie der DDR-Akademie arbeitete, sprach von einem „zwangsläufigen, aber schmerzhaften Prozess“. Er glaube aber kaum, dass Ostdeutsche bei den Neubesetzungen nach der Wende die gleichen Chancen wie Westdeutsche gehabt hätten. Der Biochemiker Jens Reich sagte, vor allem „die mittlere Generation“ von Ost-Forschern habe es schwer getroffen – während viele junge Wissenschaftler ihre Chance auf eine Karriere im Westen nutzten.

Nach der Wiedervereinigung wurde das westdeutsche Wissenschaftssystem auf den Osten übertragen. Hätte es eine Alternative gegeben? Nein, lautete die übereinstimmende Antwort. Die DDR-Wissenschaft habe 1990 „ein Bild des Verfalls“ abgegeben, sagte Schipanski. In der Schnelle der Zeit habe man gar nicht anders gekonnt, als die Strukturen aus dem Westen zu übernehmen. Allerdings sei es schade, dass der Westen nicht seinerseits eine der wenigen Stärken des DDR-Systems – nämlich die Betonung der Lehre – für sich entdeckt habe. Insgesamt, so die einhellige Meinung, sei die Wiedervereinigung in der Wissenschaft eine Erfolgsgeschichte. Beispiele wie der Campus Adlershof in Berlin oder das „Silicon Valley“ in Sachsen zeigten, wie sehr der Osten Anschluss an die Spitze gefunden habe – und wie sehr die Wissenschaft Ostdeutschland voranbringe. 

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