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Blatten.

© AFP/FABRICE COFFRINI

Gletschersturz im Wallis: Ein brutaler, lehrreicher Ruf der Natur

Die Ereignisse in der Schweiz lehren uns Ehrfurcht vor den Ur-Kräften des Planeten. Doch sie zeigen auch einen Weg auf, wie wir darauf reagieren sollten.

Richard Friebe
Ein Kommentar von Richard Friebe

Stand:

Dass es gerade ein Gletscher ist! Im Wallis bricht ein Stück vermeintlich ewigen Eises ab und begräbt ein Dorf unter sich.

Gletscher und ihr Verschwinden sind eines der Symbole des menschengemachten Klimawandels. Einer von ihnen löst hier nicht in der viel beschworenen, fast abstrakten und die Menschen nicht erreichenden Langsamkeit eine Katastrophe aus, sondern in Sekunden. Er erinnert uns mal wieder an die Kraft der Natur.

Er erinnert uns aber vielleicht auch daran, dass menschliche Zivilisationen immer, und sicher auch in Zukunft, in ihrem Gedeih und Verderb daran gekoppelt sind, Naturkräfte und Naturkatastrophen zu erleiden, auszuhalten, aus ihnen zu lernen.

Eines der ältesten und eindrücklichsten Beispiele ist das „alte“ Ägypten: Es war ein Land der Mega-Flutkatastrophen, jedes Jahr. Diese Katastrophen wurden dort, mithilfe von Bewässerungssystemen, mithilfe von Wissenschaft – denn ohne Geometrie etwa wäre es nie gelungen, die Felder jedes Jahr neu zu vermessen – aber auch durch funktionierende Kommunikation in einem funktionierenden Staatsgebilde, zur Grundlage einer der ersten und langlebigsten Hochkulturen der Welt.

Menschliche Zivilisationen mussten schon immer einen Mittelweg finden zwischen Abgrenzung der Kultur von der Natur und dem Leben mit ihr. Dort, wo es übertrieben wurde, durch Raubbau und Übernutzung, gingen Kulturen zugrunde. Etwa für die Maya in Mittelamerika galt das wahrscheinlich.

Dort, wo es rechtzeitig gelang, gegenzusteuern, erholten sie sich oft wieder. So geschehen im Japan des 19. Jahrhunderts, als die Shogune begannen, auf eine nachhaltige Waldwirtschaft zu setzen. Jüngere Beispiele sind etwa der Natur- und Gewässerschutz der vergangenen gut 50 Jahre in Deutschland und vielen anderen Ländern, und international das Verbot der ozonschädigenden FCKW-Substanzen 1989. Alles nicht perfekt. Aber die Konsequenten, hätte man ganz darauf verzichtet, mag man sich auch nicht gerne vorstellen.

Immer spielten hier Wissenschaft, Technologie und meist auch internationale Kooperation eine Rolle. Selbst die Japaner holten sich, trotz aller Abschottung auf fast allen anderen Gebieten, im 19. Jahrhundert die nachhaltige Waldwirtschaft samt Expertise großteils aus Deutschland.

Die Natur gehorcht nur den Naturgesetzen

Beim aktuellen Fall hat die Natur wieder ihre volle Kraft gezeigt. Wir können sie nicht aussperren. Aber es hat fast keine Menschenleben gekostet. Der Grund dafür ist, dass man auf Grundlage von Wissenschaft und Technologie vorbereitet war, und richtig und schnell kommuniziert und agiert hat. Agiert. Nicht erst reagiert. Anders als etwa im Ahrtal vor vier Jahren.

Tatsächlich funktioniert das in vielen Ländern ständig und fast unbemerkt. Es funktioniert dort gut, wo Technologie und politisches System es erlauben. Ein Beispiel sind Netzwerke mit Erdbebensensoren in Japan und Taiwan. Die warnen dort sofort Menschen per App und öffentlichem Alarm, stellen automatisch Ampeln auf Rot, verschließen Gasleitungen und vieles mehr. Ganz abgesehen davon, dass dort längst die meisten Gebäude so gebaut sind, dass sie alles außer einem Mega-Beben aushalten.

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Seismometer für die Erdbebenwarnung sind über ganz Japan verteilt und miteinander vernetzt

Es gibt natürlich auch Staaten, oft geprägt von de-facto Autokratie, Demagogie und Korruption, wo all das nicht so gut funktioniert, die Türkei etwa. In den USA zeichnet sich, mit all der Wissenschaftsfeindlichkeit, all den Aufweichungen von Umweltstandards, all der Irrationalität und der Abwendung vom Klimaschutz, leider ähnliches ab. Und wenn sich im eigenen Land Katastrophen wie die im Ahrtal zutragen, die in ihrem Ausmaß und was die Zahl der Opfer angeht, vermeidbar gewesen wären, sollte man sich auch fragen, was falsch läuft.

Menschliche Zivilisationen wachsen insgesamt an der Konfrontation und am Ausgleich mit der Natur. Voraussetzung sind Vernunft, mit Gemeinsinn genutzte Ressourcen und ein politisches System, das all dies ermöglicht.

Die wohl größten je dagewesenen Herausforderungen stehen jetzt vor uns: Klima- und Biodiversitätskrise, Planetenverschmutzung mit Mikroplastik und anderen fragwürdigen Substanzen, wirkungslos werdende Antibiotika, ausgelaugte Böden. Dazu kommen von der Kraft des Atomkerns bis hin zur Künstlichen Intelligenz Technologien, die sich je nach Umgang mit ihnen katastrophal oder extrem nützlich auswirken können.

Die Frage ist: Schaffen wir das? Möglich ist es, aber wir müssen es wollen. Und um es wollen zu können, müssen wir es zunächst einmal einsehen. Und einsehen, dass die Lösungen nicht umsonst und vom Sofa aus zu haben sind. Sonst wird der Gletscher uns unter sich begraben.

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