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Die Wirkung von medizinischem Cannabis ist nach wie vor unklar.

© Menahem Kahana/AFP

Große Lücken im Versorgungsalltag: Wem hilft medizinisches Cannabis wirklich?

Wie Cannabinoide Schmerzen lindern, ist wissenschaftlich weiterhin nur unzulänglich geklärt. Ein Facharzt und Schmerztherapeut fordert deshalb ein Umdenken.

Seit gut fünf Jahren dürfen Ärzt:innen Cannabis-Arzneimittel verordnen, doch im Versorgungsalltag gibt es nach wie vor große Lücken. Denn bei welchen Symptomen Cannabinoide Linderung verschaffen können und in welcher Dosis sie das tun, ist wissenschaftlich weiterhin nur unzulänglich geklärt.

Daher zögern nicht nur viele Mediziner.innen bei der Verordnung, gesetzliche Krankenkrassen verweigern auch noch häufig die Kostenübernahme. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wurde daher vom Gesetzgeber mit einer Begleiterhebung beauftragt, um die Wirksamkeit von medizinischem Cannabis bei den unterschiedlichsten Erkrankungen zu belegen.

Die Datenerhebung endete Ende März, doch obwohl noch keine endgültigen Ergebnisse vorliegen, ist die Kritik bereits groß. Experten bemängeln das Studiendesign und sprechen von mangelnder Aussagekraft. Die Plattform Copeia.de sieht in der BfArM-Erhebung insbesondere die Patient:innensicht vernachlässigt und hat darum eine eigene Befragung initiiert.

Garvin Hirt ist einer der Gründer der Plattform, mit deren Hilfe die Therapie mit cannabinoidhaltigen Arzneimitteln für Patient:innen und Ärzt:innen vereinfacht und Transparenz geschaffen soll. „Der Markt ist mittlerweile sehr groß und unübersichtlich geworden“, sagt Hirt. Copeia.de mache einen Vergleich der verfügbaren Produkte möglich – unter anderem mit Blick auf die Dosierung.

An der Befragung des Start-ups haben nach Hirts Angaben mittlerweile rund 1500 Personen teilgenommen, etwa 1000 vollständig nutzbare Datensätze lägen vor.

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Die Teilnehmer:innen wurden unter anderem gefragt, ob sie die Arzneimittel als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder als Selbstzahler beziehen, welche Indikation bei ihnen vorliegt, welche Symptome sie damit behandeln wollen und wie sie die Wirksamkeit einschätzen.

Die Kontakte habe man über das eigene Netzwerk, über Apotheken, die Medizinalcannabis abgeben, Ärzteverbände und Patientenorganisationen hergestellt. Bis Ende April läuft die Befragung, für die sich Hirt und seine Kollegen noch weitere Patient:innen aus der ärztlichen Therapie wünschen.

Ergänzende Daten nötig

Bei der BfArM-Erhebung werde der Fokus vorrangig auf die Indikation für die Verschreibung und weniger auf den Verlauf der behandelten Symptome gelegt, so Hirt. Zudem würden nur Patient:innen berücksichtigt, für die es eine GKV-Kostenübernahme gibt. Damit klammere man den vermutlich genauso großen Markt aus Privatversicherten und Selbstzahlern ausklammern. „Wir gehen von 120.000 bis 150.000 Cannabis-Patient:innen aus“, sagt Hirt.

Vergleicht man die Daten der bisherigen Zwischenergebnisse des BfArM mit denen des GKV-Spitzenverbandes und den vorliegenden Ergebnissen aus der Copeia-Befragung, sind erhebliche Abweichungen festzustellen. Zum Beispiel mit Blick auf den Anteil an Cannabis-Patient:innen, die Blüten der Pflanze anwenden. Dieser liegt laut GKV bei 32 Prozent, Copeia kommt hingegen auf 76 Prozent. Das BfArM vermeldete in seinem Zwischenergebnis vom Oktober 2021 gerade einmal 18 Prozent.

Eine Patientin öffnet einen Grinder, mithilfe dessen medizinisches Cannabis zerkleinert wurde.
Eine Patientin öffnet einen Grinder, mithilfe dessen medizinisches Cannabis zerkleinert wurde.

© Philipp von Ditfurth/dpa

Mit der Copeia-Befragung zum Therapieverlauf mit Cannabis-Arzneimitteln sollen laut Hirt wichtige Informationen aus der Perspektive der Patient:innen erhoben werden. Die wissenschaftliche Leitung haben die Ärzte Knud Gastmeier und André Ihlenfeld.

Gastmeier ist Facharzt für Anästhesiologie, Schmerztherapeut und Palliativmediziner und ein Verfechter der Therapieergänzung um Medizinalcannabis. Ihn ärgert es, dass die Ablehnungsquoten nach wie vor sehr hoch sind. Der Geschäftsführer des Interdisziplinären Arbeitskreis Brandenburger Schmerztherapeuten behandelt viele geriatrische Patient:innen und ist in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung tätig.

Hier könne Medizinalcannabis bei unterschiedlichen Symptomen gut angewendet werden, sagt er. Doch nicht immer sei das möglich. So berichtet Gastmeier von einer über 80 Jahre alten Frau, die gegen ihre Schmerzen drei Mal drei Tropfen Dronabinol verordnet bekam, diese aber von der Kasse nicht bezahlt erhielt. Seit mehr als vier Jahre klagt sie dagegen. Für Gastmeier ist das unmenschlich und vollkommen unverständlich.

Kostenübernahme bei vielen chronischen Erkrankungen schwierig

Die Ergebnisse der BfArM-Erhebung sollen letztlich eine Grundlage dafür bilden, bei welchen Indikationen Cannabis erstattungsfähig bleibt. Gastmeier fürchtet, dass die Anwendungsgebiete am Ende zu stark beschränkt werden und viele Patient:innen, die davon profitieren könnten, leer ausgehen.

Aus den Copeia-Daten wird ersichtlich, welche Indikationen heute am häufigsten zur Kostenübernahme führen. Dabei steht an erster Stelle Multiple Sklerose mit 85 Prozent Kostenübernahme. Es folgen: chronische Schmerzen und Fibromyalgie mit jeweils 58 Prozent, Schmerzen des Bewegungsapparats mit 54 Prozent, Rückenschmerzen mit 37 Prozent und Depressionen mit 22 Prozent.

Gefragt nach den Symptomen, die sie mit Medizinalcannabis behandelt wissen wollen, antworten die Befragungsteilnehmer:innen am häufigsten mit Schmerzen allgemein (52 Prozent), Schlafstörungen (44 Prozent), innere Unruhe (33 Prozent), Stress/Anspannung (32 Prozent) und Absetzen eines anderen Medikaments (26 Prozent).

Hier zeige sich, so Gastmeier, dass der reine Indikations-Bezug, den das BfArM ansetzt, nicht ausreiche, um gute Versorgung zu ermöglichen. Denn beispielsweise wird eine Kostenübernahme bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung in der Regel abgelehnt, dabei könnten die damit zusammenhängenden Symptome wie innere Unruhe und Schlafstörungen laut Gastmeier mit Cannabis, genauso gut wie bei vielen anderen chronischen Erkrankungen behandelt werden.

Reduktion von Opioiden oder Psychopharmaka

Dass mehr als ein Viertel der Befragten das Absetzen eines anderen Medikaments als Grund für die Cannabis-Medikation nennt, interessiert Ihlenfeld besonders. Der Facharzt für Anästhesie begrüßt es, wenn Patient:innen die Möglichkeit bekommen und wahrnehmen, Opioide oder Psychopharmaka zumindest teilweise gegen Cannabis-Arzneimittel auszutauschen.

Doch weil die Studienlage schwammig und die Dosierungsfragen auch nicht leicht zu klären seien, habe die Behandlung mit Medizinalcannabis nach wie vor ein „unseriöses Image“, so Ihlenfeld. Daran müsse sich dringend etwas ändern. Und natürlich, räumt er ein, gebe es auch solche Patient:innen, die mit konkreten Forderungen nach Cannabis in die Praxis kommen.

Aber damit müssten Ärzt:innen auch umgehen können und eine eigene Therapieentscheidung treffen. Ein weiteres Problem ist aus Ihlenfelds Sicht das Überangebot an Produkten. „Die Firmen drängen nur so auf den Markt“, sagt er.

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Gerade darum sei es wichtig, einen niedrigschwelligen Zugang zu Ärzt:innen sicherzustellen, die Cannabis-Arzneimittel verordnen – und mit Blick auf die angekündigte Legalisierung noch einmal mehr.

Denn angesichts der jetzt schon bestehenden Versorgungslücken könnte die Rate an Selbstmedikationen in die Höhe schnellen, glaubt Gastmeier. „Aus unseren erhobenen Daten lässt sich erkennen, dass die Dosierungen in der Selbstmedikation häufig viel zu hoch sind.“ Die Dosierungen schwanken sehr stark und reichen von 30 Milligramm als Tagesdosis bis hin zu 1000 Milligramm.

„Normalerweise haben wir bei Arzneimitteln sehr enge Dosisbereiche – das ist hier ganz anders“, ergänzt Ihlenfeld. Aus den Copeia-Datensätzen lässt sich erkennen, dass die Behandlungsdosis gar nicht hoch sein muss, um eine empfundene Verbesserung des Leidens feststellen zu können – und das geschieht bei den Befragten laut vorläufigen Ergebnissen zu durchschnittlich 90 Prozent bezogen auf alle behandelten Symptome.

Gastmeier betont daher, dass es wichtig ist, Patient:innen frühzeitig mit Cannabis zu behandeln, bevor in der Selbsttherapie viel zu hohe Dosen zur Anwendung kommen, die dann womöglich auch zu deutlicheren Nebenwirkungen wie Verwirrtheit oder starker Schläfrigkeit und zu unnötigen Kosten führten.

Dana Bethkenhagen

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