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Der Kopf eines Neugeborenen ruht in den Händen einer Erwachsenen.

© mauritius images

Schädel-Deformationen bei Neugeborenen: Interdisziplinäre Kopfarbeit

Neu zusammengesetzt: Ein Projekt zu Schädelformen verbindet Kulturwissenschaft mit klinischer Praxis. Es berührt heikle historische und chirurgische Fragen.

Manchmal beginnen große Forschungsprojekte mit einem kleinen Satz. 2005 schrieb die Berliner Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel im Tagesspiegel, dass „angesichts zunehmender Spezialisierung in der technisch-naturwissenschaftlichen Forschung“ die involvierten Wissenschaftler „die kulturellen Kontexte und historischen Voraussetzungen“ ihrer jeweiligen Innovationen oft nicht mehr überblicken könnten. Sie hätten die Hilfe von Geisteswissenschaftlern nötig: „Kultur betrifft nämlich die Art und Weise, wie Wissen hergestellt, überliefert und genutzt wird.“ Neurochirurg Hannes Haberl, der damals an der Charité praktizierte, saß zunächst leicht verärgert vor seiner Zeitung.

„Aber dann musste ich mir eingestehen, dass Sigrid Weigel Recht hat“, sagt Haberl heute. Er ist seit Jahrzehnten Spezialist für eine komplizierte Operation bei Säuglingen, deren Schädelnähte bei der Geburt bereits verschlossen sind. Dadurch kommt es häufig zu auffälligen Deformationen der Kopfform. Meist werden die Kinder im Alter von wenigen Monaten operiert. Ihr Schädelknochen wird aufgesägt, herausgenommen und umgeformt – also buchstäblich neu zusammengepuzzelt. Doch nach welchen Gestaltungsmaßstäben eigentlich?

Die Rassenlehre der Nazis diskreditierte das Forschungsgebiet

Dazu wurde bislang kaum geforscht. „Es gibt in der Medizin große Hemmungen, sich an das Thema Schädelformen heranzuwagen“, sagt Haberl. Woran das liegt, ist offensichtlich: Die Rassenlehre der Nazis und ihre exzessive Beschäftigung mit Kopfformen hat das Gebiet nachhaltig diskreditiert. Beschreibungen eines „idealen“ Schädels sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland ein Tabu. Für die Betroffenen hat dieser weiße Fleck in der Forschung schwerwiegende Folgen. „Wo es kein festgeschriebenes Operationsziel gibt, greift auch keine Qualitätskontrolle“, sagt Haberl. Stattdessen agierten die Operateure teilweise wie Bildhauer: nach eigenem Gutdünken und vermeintlich künstlerischem Können. Damit wollte sich der Mediziner nicht länger zufriedengeben.

Als Haberl Weigel anrief und fragte, ob sie Interesse an einem gemeinsamen Projekt habe, stieß er bei der damaligen Leiterin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) auf offene Ohren. „Man kann nicht unbefangen sein, wenn man die Befangenheiten nicht reflektiert und bearbeitet hat“, sagt Weigel. Von Anfang an stand fest, dass die Zusammenarbeit am Ende den Patienten und Ärzten nutzen sollte. Dazu wollten die Wissenschaftler auch die Perspektive der Kinder und Eltern einbeziehen. „Es war zunächst schwer, eine Drittmittelförderung zu bekommen“, erinnert sich Weigel. Erst im Jahr 2010 geht ein Antrag bei der Volkswagen-Stiftung durch; 745 000 Euro werden bewilligt. Nach jahrelangen Vorarbeiten können 2011 Mitarbeiter engagiert werden.

Quellentexte von Platon bis Wilhelm von Humboldt

An historischem Textmaterial mangelt es nicht. Über Schädelformen haben sich seit der Antike unzählige Philosophen und Schriftsteller ausgelassen. Im 18. Jahrhundert blüht die physiognomische Forschung, die äußere Merkmale eines Menschen mit bestimmten Charaktereigenschaften gleichsetzt. Auch wenn längst wissenschaftlich überholt, „wirken die physiognomischen Vorurteile in unserer Wahrnehmung und unserem Gedächtnis fort“, erklärt Weigel. In einem fast 400-seitigen Quellenband hat das Team nun die einflussreichsten Texte von Aristoteles, Platon, da Vinci, Dürer, Shakespeare, Lavater, Goethe, Hegel, Wilhelm von Humboldt bis zu den Rassentheoretikern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts versammelt („SchädelBasisWissen II. Texte zur Wissensgeschichte eines Knochens“, herausgegeben von Uta Kornmeier).

Weigels und Haberls Interesse galt aber ebenso der aktuellen klinischen Praxis. Band I. über „Kultur und Geschichte der chirurgischen Korrekturen der Schädelformen“ präsentiert neueste Operationsmethoden, eine umfassende Chirurgiegeschichte und eine Auseinandersetzung mit den ästhetischen Kriterien in der Medizin. Die Wissenschaftler haben Texte und Abbildungen analysiert, aber auch die kommunikative Situation im ärztlichen Behandlungszimmer unter die Lupe genommen. Anonyme Patientenforen im Internet wurden ebenfalls untersucht: Birgit Griesecke zeigt dabei, wie behutsam die Eltern sich über ihre Kinder und deren Köpfe austauschen und wie ihnen die sprachlichen Tabus den Dialog erschweren.

Griesecke hat einen weiteren Ansatz verfolgt: Mithilfe des preisgekrönten Jugendromans „Wunder“ von Raquel J. Palacio, dessen Hauptfigur ein Junge mit einem auffälligen Kopf ist, entwickelte die Wissenschaftlerin eine Lehreinheit für die Grundschule. Mit einer sechsten Klasse aus dem Prenzlauer Berg diskutierte sie das Thema körperliche Auffälligkeiten. Fazit: Pädagogische Programme, die auf literarischen Texten basieren, können helfen, Kinder zu sensibilisieren und das gesellschaftliche Klima langfristig zu verändern.

Lebenslange Ausgrenzung und Beschämung

Für Kinder mit verschlossenen Schädelnähten, die unzureichend oder gar nicht operiert werden, seien lebenslange Ausgrenzung, Beschämung und Mobbing an der Tagesordnung, sagt Weigel. Mit oft dramatischen Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung. „Leider gibt es in Deutschland über diese sozialpsychologischen Aspekte kaum empirische Forschung.“ Die aber bräuchte es, damit Eltern auf einer besseren Grundlage ihre Entscheidungen treffen können. Oft wird die Schädelkorrektur, weil sie aus medizinisch-funktionaler Sicht nicht zwingend notwendig ist, als ästhetische Korrektur missverstanden – und gerät so in die Kontroversen über Schönheitsoperationen.

Dass das Projekt nicht nur Methoden-Kritik liefert, sondern auch konkrete Vorschläge, ist ungewöhnlich. In den Geisteswissenschaften ist es üblich, Texte und Theorien zu sezieren. Aber sich auf die Ängste und Nöte von Familien einlassen? Forschung danach ausrichten, ob sie Betroffenen künftig ein unbeschwerteres Leben ermöglicht? Die langjährige ZfL-Direktorin Weigel stellt sich damit quer zu Teilen der eigenen Zunft. „Ich sehe das als eine grundlegende Aufgabe der Kulturwissenschaften“, betont sie. Die Wissenschaftler müssten sich mehr einmischen, die Anknüpfung an Probleme der Gegenwart viel offensiver betreiben.

Eine Datenbank mit Kopfformen gesunder Kinder

Doch international gehe der Trend, wie etwa bei den Disability Studies, in die entgegengesetzte Richtung. Medizinische Eingriffe würden oft abgelehnt, mit der Begründung, die Gesellschaft müsse sich verändern. „Behindert“ – das sei nur ein Konstrukt, das es diskursiv aufzubrechen gelte. „Abgesehen davon, dass diese Kinder keine Behinderung haben, helfen solche Theoriedebatten weder den Familien, noch geben sie den operierenden Ärzten mehr Sicherheit“, meint Weigel.

Ist es mit dem Projekt auch gelungen ins Fach Medizin hineinzuwirken – so wie es ursprünglich Haberls Idee war? Der Neurochirurg, der mittlerweile an der Universität Bonn tätig ist, bejaht das: „Es war eine erfolgreiche Zusammenarbeit, auch wenn sie anders verlief, als ich erwartet hatte.“ Denn das Problem, wie sich ein als „normal“ empfundener Kopf operativ konstruieren lässt, hat Haberl alleine gelöst, ohne die Hilfe der Kulturwissenschaft. Er speiste dazu dutzende Kopfformen gesunder Kinder in eine Datenbank ein. Von diesen Mustern ausgehend lassen sich individuelle 3D-Modelle anfertigen.

Die im Projekt entstandenen Publikationen – neben den beiden Büchern auch zahlreiche Aufsätze – hält Haberl dennoch für eine wichtige Hilfe. „Aus meiner Sicht fehlt Medizinern zunehmend kulturelle Bildung.“ Experten für Schädelfehlbildungen sollten sich nicht nur mit „Schrauben, Muttern und Computertechnik“ auskennen. „Sie müssen auch verstehen, vor welchem historischen Hintergrund sie diese Arbeit machen und welchen diffusen kulturellen Einflüssen sie ausgesetzt sind.“ Das sei nun umfassend aufgearbeitet.

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