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Professorin im Kreise ihrer Studierenden und Mitarbeitenden: So oder so ähnlich zeigt sich das akademische Leitungspersonal heute gerne.

© Getty Images/skynesher

Kulturwandel in der Wissenschaft: Flachere Hierarchien – endlich!

Es hat sich vieles verbessert im akademischen System. Doch für einen weiteren Kulturwandel ist mehr Vertrauen und Freiheit nötig – und zwar für alle.

Ein Gastbeitrag von Christoph Markschies

Stand:

Menschen, die schon eine Weile in der Wissenschaft unterwegs sind, neigen gern zu Vergleichen zwischen früher und heute. Meist führen solche Vergleiche auf Verfallsgeschichten (früher ging alles gemütlicher zu und man musste nicht ständig um Drittmittel kämpfen) oder auf Fortschrittserzählungen (vieles von dem, was ich lesen möchte, gibt es längst digital für den heimischen Schreibtisch).

Gemeinsam ist den unterschiedlichen Wertungen der Veränderungen zwischen früher und heute allerdings oft die Schilderung eines radikalen Kulturwandels in der deutschen Wissenschaftslandschaft insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten.

Schlichte Beschreibungen des Kulturwandels deutscher Universitäten und Forschungseinrichtungen in den letzten vierzig Jahren ohne eine explizite Bewertung finden sich deutlich seltener. Das mag daran liegen, dass solche Beschreibungen häufig auf anekdotischer Evidenz eines Individuums beruhen und nicht auf ausführlichen Untersuchungen.

Die vielleicht folgenreichste Entwicklung dieses Kulturwandels ist der schleichende Abbau der klassischen Hierarchien im deutschen System. Natürlich gab es immer schon stärker und weniger stark ausgeprägte hierarchische Strukturen und selbstverständlich sind sie auch nicht überall abgebaut worden.

Aber ich hoffe doch, dass heute kein wissenschaftlicher Assistent mehr die Tasche seines Professors in den Seminarraum trägt, das Pult mit einem eigens mitgebrachten Staubtuch abwischt und die Tafel gründlich mit einem ins Wasser getauchten Schwamm reinigt – so habe ich das bei prominenten Münchener Professoren während meines Studiums erlebt.

Ich selbst habe im Rahmen der Bleibeverhandlungen bei verschiedenen Rufen ins In- und Ausland mit den jeweiligen Universitätsleitungen immer mit dem Ziel verhandelt, mehrere Assistierende in meinem Team zu haben und auf diese Weise einem größeren Bereich vorzustehen.

Präsidenten im Bild mit jungen Leuten

Inzwischen befremdet es mich, wenn ich eine junge Wissenschaftlerin bitte, mir etwas zu kopieren – in England oder Amerika erledigen das praktisch alle selbst und man trifft auch wissenschaftliche Prominenz in der Bibliothek am Kopierer. Der neue Präsident der Max-Planck-Gesellschaft hat von seinen Besuchen in den Instituten während der letzten Monate immer Bilder in den sozialen Medien gepostet, die ihn im Kreise vieler junger Menschen zeigten und nicht nur im Kreise der Institutsleitungen und damit seinen Willen dokumentiert, steile Hierarchien abzubauen.

Ich wurde noch mit dem unvergesslichen Satz „Ich habe eine Assistentenstelle frei. Sie müssen da nicht viel tun. Konveniert das?“ für die Zeit nach dem Examen verpflichtet und wusste bei meiner angesichts des Überraschungseffekts leicht dahingestotterten Zusage weder, wie lange diese Stelle für mich bestimmt sein sollte, noch was man dort verdienen konnte.

#IchBinHanna zeigt was sich geändert hat - und was noch zu tun ist

Die Bewegung #IchBinHanna, die sich für verlässliche Karriereperspektiven im deutschen Wissenschaftssystem und klare, an Bedingungen geknüpfte Zusagen einsetzt, ist ein Zeichen sowohl dafür, was sich schon geändert hat, als auch dafür, was sich noch ändern muss. Flache Hierarchien, gut kooperierende Teams und frühe Selbständigkeit für junge Forschende gibt es schon an vielen Orten, aber eben noch längst nicht überall. Und auch in Teams kann es subtile Formen von Hierarchien geben, wenn beispielsweise die Leitung „alles für das Team“ fordert.

Eine zweite folgenreiche Entwicklung im Zusammenhang des Kulturwandels ist etwas, das ein Kollege „Projektismus“ genannt hat. Viele Menschen arbeiten im Wissenschaftssystem auf der Basis einer Art von Zielvereinbarung: Sie bekommen eine Beschäftigung, ihr Gehalt und weitere Mittel im Gegenzug für einen erfolgreichen Antrag auf ein Projekt und werden spätestens nach zwei oder drei Jahren evaluiert.

Gefahr des exzessiven Projektismus

Die entsprechenden Wettbewerbe sind hoch kompetitiv, manchmal erhalten nicht einmal zehn Prozent der Antragstellenden eine Förderung. Die akademische Lehrerin, die mich vor vielen Jahren mit der knappen Frage nach der Assistentenstelle überrumpelte, hatte zwar deutlich weniger Ausstattung als ihre männlichen Kollegen (das ist leider oft immer noch so), aber forschte nach Lust und Laune an dem, was ihr gerade Spaß machte. Die Grundausstattung der deutschen Universitäten war damals deutlich besser als heute.

Es folgt keinem Dekadenzmodell, wenn man festhält, dass die Anträge mit der Zeit immer länger geworden sind und die Abstände zwischen den Evaluationen immer kürzer. Ein mir unvergessliches Bild zeigt den langen Tisch im Sitzungssaal der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn-Bad Godesberg voll mit Antragsstapeln im Rahmen der ersten Exzellenzinitiative.

Hier wird erst in jüngster Zeit gegengesteuert. Denn bevor man einen Plan darüber entwerfen kann, worüber man forschen will und diesen Plan wortreich in einen Antrag fasst, wäre es schon gut, erst einmal frei forschen zu können. Exzessiver Projektismus gefährdet die Wissenschaftsfreiheit, allzumal, wenn die Projektausschreibungen der Förderer noch bestimmte Themenfelder vorgeben.

Die Zeit fehlt im System

Eine dritte und letzte folgenreiche Entwicklung im Zusammenhang des Kulturwandels, von der hier noch die Rede sein kann, ist die fehlende Zeit im System. Als vor dreißig Jahren die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften gegründet wurde, hoffte man noch darauf, dass die aufgrund ihrer Exzellenz zugewählten Mitglieder viel Zeit in der Akademie verbringen und eine „Arbeitsakademie“ gestalten würden.

Heute engagieren sie sich in der nächsten Runde des Exzellenzwettbewerbs, beantragen ein großes Projekt oder sitzen in einer Teambesprechung. Der größere Betreuungsaufwand in der Lehre, die höheren Verpflichtungen in der Betreuung junger Forschender und der Projektismus haben die Zeit für ein Engagement in der Akademie knapp werden lassen.

Für eine grobe Wertung dieses Kulturwandels als Fortschritt oder Rückschritt sind die Veränderungen zu ambivalent und an verschiedenen Orten zu unterschiedlich ausgeprägt. Es sind auch noch längst nicht alle wichtigen Entwicklungen (wie beispielsweise die digitale Transformation der Wissenschaft) ausreichend beschrieben.

Mir scheint aber, dass die akademische Freiheit ein gutes Ideal ist, um zwischen guten und schädlichen Wirkungen des Kulturwandels zu differenzieren: Freiheit sollte es nicht nur möglichst früh in der wissenschaftlichen Karriere geben, sondern auch für die, die schon länger dabei sind. Freiheit zu gewähren, setzt die Bereitschaft voraus, sich Vertrauen zu leisten auf Seiten der Zuwendungsgeber, der Förderinstitutionen, der Verwaltungen, der Vorgesetzten. Ohne Freiheit und Vertrauen funktioniert die Wissenschaft nicht. Aber ohne entschlossenen weiteren Kulturwandel auch nicht.

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