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In ihrem Arbeitszimmer im Krankenhaus Moabit arbeitet Lydia Rabinowitsch-Kempner an einem Mikroskop.

© ullstein bild via Getty Images

Lydia Rabinowitsch-Kempner, erste Professorin Berlins: Mikroskop, Milchkrieg und Mutterschaft

Vor 150 Jahren wurde Lydia Rabinowitsch-Kempner, Bakteriologin und erste Professorin Berlins, geboren. Sie legte sich mit "Bolle" an und führte die Sexualkunde ein.

„Ein weiblicher Professor, ein warmherziger Mensch, eine große Gelehrte!“ Mit diesen Worten wurde eine Frau, deren Geburtstag sich am 22. August zum 150. Mal jährt, anlässlich ihres 60. in einer Berliner Tageszeitung geehrt. Als das geschrieben wurde, im Jahr 1931, war Lydia Rabinowitsch-Kempner schon seit über zehn Jahren Leiterin der Bakteriologischen Abteilung im Krankenhaus Moabit.

Einen Platz an der Uni hatte die weltweit anerkannte Tuberkulose-Forscherin und zeitweilige enge Mitarbeiterin von Robert Koch zeitlebens nicht gefunden. Doch immerhin war sie 1912 von Kaiser Wilhelm II. zur Professorin ernannt worden – zur ersten Berlins. Ehrenhalber.

Erst in der Weimarer Republik ermöglichte der Gleichheitsgrundsatz der Verfassung auch Frauen die Habilitation. Nach Jahren unentgeltlicher Forschungstätigkeit in Kochs Institut und später am Pathologischen Institut der Charité, die sie sich nur aufgrund der Vermögensverhältnisse ihrer Familie und der Unterstützung ihres Mannes „leisten“ konnte, nahm Rabinowitsch-Kempner nach dem frühen Tod ihres Mannes im Jahr 1920 die Stelle im Krankenhaus Moabit an.

Zum Studium musste sie in die Schweiz gehen

Als 49-Jährige stand sie damit in Berlin erstmals auf einer Gehaltsliste. An der Medizinischen Fakultät war der Professorin eine Dozentenstelle verweigert worden.

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Dieses Einerseits-Andererseits charakterisiert den beruflichen Werdegang der Forscherin, die als Tochter aus wohlhabendem, bildungsaffinem Haus im Jahr 1871 im damals russischen, heute litauischen Kowno (heute: Kaunas) geboren wurde. Im selben Jahr wie Rosa Luxemburg übrigens, die zeitgleich mit ihr in Zürich studierte.

Auf einem historischen Foto von 1924 haben sich mehrere Dutzend Frauen zu einem Gruppenfoto aufgestellt.
Die Gründungsversammlung des Bundes Deutscher Ärztinnen 1924 in Berlin. Rabinowitsch-Kempner sitzt in der ersten Reihe rechts (mit Pelzstola).

© Vierteljahrsschrift des Bundes Deutscher Ärztinnen, 1. Jahrgang 1924/25, Heft 3

Privilegiert durch ihre Schichtzugehörigkeit, hatte Lydia Rabinowitsch aufgrund ihres Geschlechts in ihrem Leben immer wieder beträchtliche Hürden zu nehmen. Studieren konnte sie weder in ihrem Geburtsland noch in Deutschland. Wie viele Generations-Genossinnen ging sie dafür in die Schweiz.

Erstes Studienziel war wohl das Lehramt für Höhere Schulen, deshalb belegte sie in Bern und Zürich Pädagogik, Germanistik, Zoologie und Botanik. Der naturwissenschaftliche Erkenntnisdrang führte dann zur Arbeit im Labor und mit dem Mikroskop, und zu einer Dissertation über die Entwicklung bestimmter Hefepilze.

Unbezahlte Mitarbeiterin im Team von Robert Koch

1894 ging die junge Doktorin der Biologie „zur weiteren Ausbildung“ nach Berlin, forschte ebenso unentgeltlich wie unermüdlich zu Bakterien an Robert Kochs Institut für Infektionskrankheiten, dem Vorläufer des heutigen RKI. Koch beauftragte sie, praktische Untersuchungen zu Tuberkel-Bazillen in handelsüblicher Butter anzustellen.

Zugleich verbrachte sie einige Jahre lang die Winter mit Lehrverpflichtungen am Woman’s Medical College of Pennsylvania in Philadelphia, wo ausschließlich Frauen Medizin studierten. An der US-Universität brachte sie es schließlich zur Direktorin eines Bakteriologischen Laboratoriums.

[Lesen Sie auch den Artikel von Paul Starzmann über Menschenversuche Robert Kochs zum 110. Geburtstag des Mediziners im Jahr 2020]

Die amerikanischen College-Studentinnen hatten es ihr angetan: Abgearbeitete „Blaustrümpfe“ habe sie dort nicht getroffen, so schilderte sie später ihre Erfahrungen. „Ich bin niemals einer Studentin begegnet, die durch Kleidung oder Benehmen als unweiblich auffallen konnte. Sie sind ein Bild der Frische und Gesundheit.“

"Komplettes Frauenleben" - mit Familie und Forschung

Die zierliche junge Forscherin selbst ließ sich aber – trotz Direktorinnenposten und amerikanischem Professorentitel – nicht dauerhaft in den USA nieder. Sie heiratete 1898 den sieben Jahre älteren Mediziner Walter Kempner, der ebenfalls im Atelier des „Meisters“ Robert Koch arbeitete, später jedoch eine Praxis aufmachte und seiner Frau den Rücken stärkte.

Ein Grabstein auf dem u.a. der Name Lydia Rabinowitsch-Kempners eingraviert ist.
Das Ehrengrab der Kempners auf dem Parkfriedhof in Berlin-Lichterfelde.

© privat

Im Unterschied zu einigen der Frauenrechtlerinnen, die später in ihrem Haus in Lichterfelde verkehrten, befand Rabinowitsch-Kempner, dass in einem „kompletten“ Frauenleben Ehe, Kinder und Karriere Platz haben sollten, in ihrem Fall also Familie und Forschung. Das Paar bekam drei Kinder, der Älteste wurde Patenkind von Koch und auf den Namen Robert getauft. Spätere wissenschaftliche Differenzen trübten das familiäre Verhältnis wohl nicht.

„Mit Bewunderung kann man ihr Engagement für Frauen- und Familiengesundheit, ihren Mut, dem bedeutenden Wissenschaftler Robert Koch zu widersprechen, und ihre Reisen zu Orten mit neuen, fremden Infektionskrankheiten auf ihrem Lebensweg verfolgen“, schreibt Katharina Graffmann-Weschke in der gerade bei Hentrich & Hentrich erschienenen, auf ihrer Dissertation beruhenden informativen Biografie der Wissenschaftlerin (Titel: „So wollen wir auch in ihrem Sinne handeln.“ Die Bakteriologin Lydia Rabinowitsch-Kempner).

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Zu ihrem Engagement für Frauen und Kinder gehörte auch die Mitgliedschaft im Deutschen Bund für Mutterschutz und Sexualreform, der Heime für unverheiratete Mütter unterhielt, Eheberatungsstellen schuf und sich für Aufklärungsunterricht in den Schulen einsetzte.

Sexuelle Aufklärung darf man nicht allein den Eltern überlassen

Die Wissenschaftlerin unterschrieb 1906 einen Antrag an die Kultusminister, das Thema Sexualität nicht allein den Eltern zu überlassen, sondern dieses „Zentralgebiet des Menschseins“ in die Lehrpläne der Naturwissenschaften aufzunehmen. Der Bund kämpfte in einer Petition an den Reichstag darüber hinaus für eine Mutterschaftsversicherung für Schwangere und Wöchnerinnen.

Auf ihrem eigenen Forschungsgebiet konnte Rabinowitsch-Kempner nachweisen, dass die handelsübliche Rohmilch und Butter häufig mit Tuberkelbazillen verunreinigt waren, was vor allem für kleine Kinder zur Gesundheitsgefahr werden konnte.

Sie trug mit ihrer Forschung zur Entwicklung eines optimierten Verfahrens zur Pasteurisierung der Milch bei, und sie scheute sich nicht, sich im „Berliner Milchkrieg“ mit der bekannten Meierei Bolle anzulegen, bei der sie Kontrollen auf bakterielle Verunreinigungen durchführte. Die hatte ihr wohl in einem Fall in betrügerischer Absicht abgekochte Milch zur Untersuchung zugestellt, was die Bakteriologin nicht auf sich beruhen ließ.

Die Nazis beendeten ihre Karriere 1934

Die rührige Wissenschaftlerin war auf zahlreichen internationalen Kongressen präsent, wirkte viele Jahre als Schriftleiterin der „Zeitschrift für Tuberkulose“ und wurde 1924 Ehrenmitglied des frisch gegründeten Deutschen Ärztinnenbundes, obwohl sie ja selbst nicht Medizinerin war.

Sie musste erleben, dass ihre Tochter und ihr Mann ausgerechnet an Tuberkulose starben, der gefürchteten Schwindsucht. Und sie musste, all dieser Verdienste und ihrer Bekanntheit zum Trotz, im Jahr 1934 ihre Stelle im Krankenhaus Moabit räumen, trotz vieler Kämpfe um deren Verlängerung.

Denn es gab ein zweites „Andererseits“: Die Forscherin hatte sich zwar während ihres Aufenthalts in den USA evangelisch taufen lassen. Doch sie war Jüdin von Geburt. Das berüchtigte „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 bildete die Rechtfertigung für die vorzeitige Versetzung der „Nicht-Arierin“ in den Ruhestand.

Lydia Rabinowitsch-Kempner, ohnehin schon herzleidend, erkrankte an Brustkrebs und starb Anfang August 1935 kurz vor ihrem 64. Geburtstag. Vom Tod der engen Mitarbeiterin Robert Kochs, langjährigen Schriftleiterin einer bedeutenden Fachzeitschrift, Initiatorin eines Vereins zur Unterstützung studierender Frauen durch zinslose Darlehen nahm man in der Medizin und in den Medien kaum Notiz. „Die Zahl der Nachrufe in der Presse war erheblich geringer als die Gratulationen zu ihrem 60. Geburtstag 1931“, konstatiert Biografin Graffmann-Weschke.

Heute kann man auf dem Parkfriedhof in Berlin-Lichterfelde, wo die Familie lebte, ihr Ehrengrab besuchen, in der Nähe des Hauptbahnhofs heißt inzwischen eine Straße nach Lydia Rabinowitsch-Kempner. Die Charité fördert seit 2007 in einem Programm, das ihren Namen trägt, promovierte und habilitierte Wissenschaftlerinnen bei der Weiterführung ihrer wissenschaftlichen Laufbahn. Zum Beispiel, wenn sie aus familiären Gründen zwischenzeitlich eine Unterbrechung brauchten.

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