zum Hauptinhalt

© dpa / Maurizio Gambarini/dpa

Mut zur Lücke: Niemand trägt die „Schuld“ an seinem Immunstatus

Maske tragen schützt nicht, trotzdem soll das Accessoire Mikroben so abgeschirmt haben, dass das Immunsystem nicht mehr „trainiert“ wurde? Das ist ein Missverständnis.

Ein Kommentar von Sascha Karberg

Influenza, RS-Virus, Corona, Rhinoviren… Seit Wochen gehen Atemwegserkrankungen in Deutschland viral und mit ihnen der Begriff „Immunschuld“ auf Social-Media-Kanälen.

Weil wir zwei Winter lang ab und an Maske getragen, Abstand gehalten und nach dem Pinkeln ausnahmsweise mal die Hände gewaschen haben, hätten wir uns Viren und Bakterien derart gründlich vom Leibe gehalten, dass unser Immunsystem zur untrainierten Couch Potato verkommen, gleichsam in drögen Winterschlaf verfallen ist und jetzt, ohne Maske, ohne Abstand, ohne Seife, von Mikroben überrannt wird, die es sonst im Griff hatte.

Diese „Erklärung“ der derzeit vielen Krankheitsfälle wird interessanterweise oft von jenen geäußert, die das Masketragen und Abstandhalten eigentlich für komplett wirkungslos halten. Ganz falsch ist sie dennoch nicht, auch wenn sie meist falsch verstanden wird.

Niemand macht sich „schuldig“, wenn er Infektionen bestmöglich aus dem Wege geht. Denn es gibt ständig so viele Viren und Bakterien auf und in uns, dass die Immunabwehr ohnehin nie ruht. Der Aberglaube, die Körperabwehr werde auf Masern- oder Coronapartys nach dem Motto „Was uns nicht tötet, härtet uns ab“ gestählt, ist im Hinblick auf akute und Spätschäden der Infektion mindestens fahrlässig.

„Milde“ Infektion, fiese Folgen

Zwar lernt das Immunsystem nach solchen Infektionen dazu, „merkt“ sich den Virus- oder Bakterientyp, indem es die passenden Antikörper vorhält, um beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein. Doch jede Infektion kann dem Körper auf die eine oder andere Art schaden. Auch dem Immunsystem.

Influenza- und Masernviren etwa schwächen es nachhaltig, vermutlich vermag das auch Sars-Cov-2. Niemand mit Verstand würde sich oder seine Kinder absichtlich mit Polioviren, dem Erreger der Kinderlähmung, oder Ebola infizieren, um sein Immunsystem zu „trainieren“.

Auch beim Epstein-Barr-Virus wäre das keine gute Idee. Zwar verläuft das von diesem Erreger ausgelöste Pfeiffersche Drüsenfieber in der Regel mild, doch seit Kurzem weiß man: Infizierte können Jahrzehnte später Multiple Sklerose entwickeln. Mit Infektionen tut man dem Körper also nichts Gutes, im schlimmsten Fall schwächt man ihn eher.

Was der Begriff „Immunschuld“ oder besser -lücke meint, bezieht sich auf die Immunität der Bevölkerung, nicht das Schutzverhalten des Einzelnen. Die aktuellen RSV- oder Rhinovirus-Varianten können sich in der Bevölkerung leichter verbreiten, weil in den vergangenen zwei Jahren weniger Menschen als sonst die dazu passenden Antikörper entwickelt haben.

Nicht „Training“ fehlt also, sondern diese Antikörper-Updates. Daher können sich diese Virusvarianten in der Bevölkerung leichter verbreiten – aber auch, weil jetzt viele sorgloser geworden sind und kaum noch Maske tragen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false