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© - Foto: dpa

Neue Medien: Von Reiz zu Reiz

Digitale Eingeborene, digitale Einwanderer: Wie der Umgang mit Computern die Gehirne von Kindern und Erwachsenen verändert

Es ist wie ein Moment der Erlösung. Ein Knopfdruck, das vertraute summende Geräusch, ein Blick auf den Bildschirm und das Gefühl: Ich bin verbunden, ich bin nicht allein, mein Körper, meine Probleme sind nicht mehr wichtig, wichtig ist jetzt nur noch mein Gehirn – und das der Maschine. Da haben sich zwei gefunden, die füreinander wie gemacht sind, die miteinander kommunizieren, beinahe verschmelzen, stundenlang, tagelang. Nur manchmal löst sich das menschliche Gehirn aus dem Sog und fragt: Was macht diese Maschine mit mir?

Glaubt man dem amerikanischen Neurowissenschaftler Gary Small, so macht die Maschine sehr viel mit dem menschlichen Gehirn. „Der tägliche Umgang mit Hightech-Erfindungen führt dazu, dass Hirnzellen sich verändern und Neurotransmitter freigesetzt werden, wodurch allmählich neue neuronale Bahnen in unserem Gehirn gestärkt und alte geschwächt werden“, schreibt er. Er sieht sogar einen „Evolutionsprozess“ am Werk, der mit nie da gewesener Geschwindigkeit voranschreite.

Small leitet das „Memory and Aging Research Center“ an der Universität Los Angeles und hat zusammen mit seiner Frau, der Wissenschaftsjournalistin Gigi Vorgan, ein Buch mit dem ins Auge springenden Titel „iBrain“ geschrieben. Darin fragen sie vor allem, wie die neue Medienwelt Gehirn und Seele unserer Kinder verändert. Denn keine Generation vor ihnen ist der Stimulation durch Medien in solchem Umfang ausgesetzt gewesen.

Kinder und Jugendliche seien die „digital natives“, die Eingeborenen im Lande Digitalia, denn sie sind mit Computer und Handy aufgewachsen und haben ihr Gehirn in einer besonders sensiblen Phase auf diese Medien eingestellt. Ihnen gegenüber stehen die „digital immigrants“, die Einwanderer, die erst im erwachsenen Alter den Umgang mit dem Computer erlernt haben, also alle über 35, 40 Jahren, Babyboomer und Senioren. Diese älteren Semester könnten sich, wie Small und Vorgan sehr amerikanisch formulieren, „sogar noch daran erinnern, dass man nur einen einzigen Fernseher zu Hause hatte – vielleicht nicht einmal einen Farbfernseher“.

Viele Erwachsene mittleren Alters und Senioren gehen inzwischen routiniert mit dem Computer um. Dennoch trennt sie von den digitalen Einheimischen eine Kluft, die Small/Vorgan „brain gap“ nennen. Denn das menschliche Gehirn hat seine größte Plastizität, die größte Formbarkeit in den Kindheitsjahren; in diesen Jahren wird eine Vielzahl von neuronalen Verschaltungen gebildet, die später „zurückgestutzt“ werden. In der Sprache der Neurowissenschaften heißt das „pruning“: Verbindungen, die das Gehirn für unnötig erachtet, die selten abgefragt werden, werden wieder gekappt. Um 60 Prozent reduziert sich die Anzahl der Synapsen in der Adoleszenz.

Die Zeit, die Kinder und Jugendliche heute mit Smartphones, Nintendos und Computern verbringen, können sie nicht nutzen, um etwa zu lesen, zu musizieren, miteinander Sport zu treiben oder Gespräche zu führen. Small sieht daher eine „Schwächung der neuronalen Schaltkreise, die für den zwischenmenschlichen Kontakt zuständig sind“ – digitale Eingeborene seien etwa schlechter in der Lage, körpersprachliche Signale ihres Gegenübers zu deuten. Gewöhnt an eine rasche Abfolge von visuellen und auditiven Reizen finden sie es schwer, ihre volle Aufmerksamkeit auf eine Sache zu richten oder über längere Zeit zuzuhören. Sie neigen dazu, mehrere Medien parallel zu nutzen und zeigen vermehrt Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizitsstörung (ADHS).

Typisch ist ein „Zustand fortgesetzter partieller Aufmerksamkeit“, den auch viele erwachsene Computernutzer kennen: Das Gehirn befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft und hält ununterbrochen Ausschau nach einem neuen Kontakt oder einer spannenden Neuigkeit oder Information, hat aber keine Zeit mehr zur Reflexion oder Kontemplation. Besonders Jugendliche können auf diese Weise zu „Stimulus-Junkies“ werden, um Gefühlen wie Langeweile auszuweichen.

Und das hat messbare Auswirkungen auf das Gehirn: Chronisches und intensives Multitasking könne, so Small/Vorgan, die angemessene Entwicklung des frontalen Kortex verzögern. Es fällt dann schwerer, Belohnungen aufzuschieben, Reaktionen anderer Menschen abzuschätzen, vorausschauend zu planen und abstrakt zu denken.

Auf der anderen Seite tragen E-Mail, Google und Computerspiele auch nachweislich dazu bei, den Verstand zu schärfen: schneller auf visuelle Stimuli zu reagieren, große Informationsmengen rascher zu verarbeiten und schneller zu entscheiden, was wichtig ist. Gehirnprozesse gewinnen an Effizienz – das wird unsere Vorstellung davon prägen, was „Intelligenz“ ist.

Was folgt aus all dem? Laut Small/Vorgan gibt es nur einen Weg: Digitale Eingeborene und Einwanderer müssen voneinander lernen. Die technikaffinen Jüngeren können von den Älteren soziale Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zum Zuhören und angemessenes Verhalten in zwischenmenschlichen Situationen lernen, die Älteren können von den Jüngeren erfahren, wie man schnell und sicher von einem Medium zum anderen, von einer Aufgabe zur anderen springt.

Small und Vorgan läuten daher auch nicht die Apokalypse ein, sondern beschreiben das „Gehirn der Zukunft“ optimistisch: „Es wird technikerfahren und bereit sein, Neues auszuprobieren – doch es wird auch in der Lage sein, erfolgreich zu multitasken und volle Konzentration aufzubringen, und es wird über fein abgestimmte verbale und nonverbale Fähigkeiten verfügen. Es wird uns helfen, Empathie auszudrücken, wird über ausgezeichnete soziale Fähigkeiten verfügen und die eigene Kreativität fördern können.“

Im Idealfall vereint es also alle Stärken, die jetzt unter „digital natives“ und „digital immigrants“ ungleich verteilt sind. Schöne neue Gehirnwelt? Für einige sicherlich, für die privilegierten, souveränen und vielseitigen Nutzer von Gehirn und Computer. Bleibt die Frage, wie viele von uns diesen Schritt in der Evolution des Gehirns erfolgreich bewältigen werden – und wie viele quasi verblödet zurückbleiben, gefangen in einer Welt aus oberflächlichen Kauf- und anderen Reizen. Dass alle mitkommen, ist unwahrscheinlich. Denn dafür wäre eine soziale und finanzielle Evolution erforderlich, die sich wohl auch ein supermodernes Gehirn nur schwer vorstellen kann.

Gary Small und Gigi Vorgan: iBrain. Wie die neue Medienwelt Gehirn und Seele unserer Kinder verändert. Aus dem amerikanischen Englisch von Maren Klostermann. Kreuz Verlag, Stuttgart 2009. 200 Seiten, 19,95 Euro.

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