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Gehirnkarte. Gall meinte, in der Kopfform sei die Persönlichkeit zu erkennen.

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Neurowissenschaft: Mehr Freiheit als die Schlupfwespe

Sind wir der Beantwortung der Frage, was den Menschen ausmacht, durch den enormen Wissenszuwachs der letzten beiden Jahrzehnte denn nähergekommen? Philosophen und Forscher diskutieren über das Menschenbild der Neurowissenschaft.

Wird die Versuchsperson die beiden Zahlen, die gleich auf dem Monitor erscheinen, zusammenzählen, oder wird sie sich entschließen, die kleinere von der größeren abzuziehen? Im Versuch, den John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computional Neuroscience in Berlin vor einiger Zeit anstellte, stand den Probanden beides frei. Doch im „Hirnscanner“, dem funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRT), ließ sich anhand charakteristischer Aktivitäten mit großer Sicherheit voraussagen, wie sie entscheiden würden. Zumindest ein kleiner Teil dessen, was wir denken, fühlen und planen, ist heute mit neurowissenschaftlichen Methoden „durchschaubar“ geworden. Vielen ist das unheimlich. „Dominiert die Neurowissenschaft unser Menschenbild?“, fragte die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) am Freitag bei einer Tagung in Berlin.

„Alle mentalen Ereignisse müssen durch das Nadelöhr des Gehirns“, so stellte dort der Charité-Psychiater und Philosoph Henrik Walter fest. Schon René Descartes suchte den Sitz der Seele dort – und glaubte ihn in seiner Mitte in der unscheinbaren Zirbeldrüse verorten zu können. Einen Hirnscanner hatte er noch nicht, doch er habe das Verdienst, den Wissenschaften „die Zunge gelöst“ zu haben, meint der Mediziner und Wissenschaftshistoriker Michael Hagner von der ETH Zürich. „Seitdem kann über Natur in rationalistischer Weise geredet werden.“ Zahlreiche Forscher der folgenden Jahrhunderte suchten im Gehirn und seinen Strukturen wie der Anatom Franz Joseph Gall nach dem, „was den Menschen ausmacht“. Die Geschichte ihrer Irrtümer mahne die Hirnforschung allerdings zu kritischer Bescheidenheit, meint Hagner.

Sind wir der Beantwortung der Frage, was den Menschen ausmacht, durch den enormen Wissenszuwachs der letzten beiden Jahrzehnte denn nähergekommen? Nein, sagt der Marburger Philosoph Peter Janich. Die Neurowissenschaften böten sich zwar inzwischen als „Philosophieersatz“ an, enthielten aber selbst keineswegs ein neues Menschenbild. Vor allem in der Debatte über die Willensfreiheit des Menschen sieht er eine Anmaßung.

Sein Kollege Michael Pauen von der Humboldt-Universität ist gelassener. Für ihn besteht die Aufgabe einer praktischen Neurophilosophie vor allem darin, die Konsequenzen wichtiger Ergebnisse aus der Hirnforschung zu bedenken. Das setze voraus, die Experimente zu kennen – und die Begriffe zu klären, die zu ihrer Einordnung verwendet werden. So spreche es nicht gegen die Freiheit der Handelnden, dass Ursachen für Handlungen dingfest gemacht werden können. „Auch eine determinierte Handlung kann frei sein, sofern sie durch die Person selbst determiniert ist.“ Die komplizierten gedanklichen Vorgänge, die im menschlichen Gehirn dabei ablaufen, verschafften dem Homo sapiens durchaus einen „Zuwachs an Freiheitsgraden gegenüber der Schlupfwespe“, mit der er einige Hirnstrukturen teile.

Kein Zweifel: Verhaltensweisen haben neurobiologische Grundlagen. Doch sie werden, wie Walter betonte, auch durch das Menschenbild geprägt, das in einer Gesellschaft herrscht: „Die Leute schummeln eher, wenn sie der Meinung sind, dass es die Willensfreiheit nicht gibt.“

Große und befrachtete Begriffe dieser Art sind die Sache des Charité-Mediziners Gabriel Curio nicht. Am Berlin Brain-Computer Interface (bbci), hilft er Menschen mit schwersten Lähmungen, „mentale Schreibmaschinen“ oder aktive Prothesen in Echtzeit mit der Kraft ihrer Gedanken zu steuern. „Die Neurowissenschaft dient dem Menschen“, sagt Curio. In dem Moment, in dem man so viel wisse, dass man wirksam helfen könne, könne man das Wissen aber auch missbrauchen, gab da sein Kollege Henrik Walter zu bedenken.

Auf dem drängend wichtigen Gebiet der Behandlung von Alzheimer und anderen Demenzen sei es mit diesem Können noch nicht weit her, beklagte später Peter Janich. Schon deshalb wünscht er den Neurowissenschaften für die nächsten Jahrzehnte rasante Erfolge. Forscherdrang jeder Art gehört allerdings auch zu seinem philosophischen Menschenbild: „Der Mensch kann auf der Kulturhöhe, die er erreicht hat, immer Neues entdecken und entwickeln.“ Das passte gut zum 300. Geburtstag der Charité, der die Mitglieder der GDNÄ in diesem Jahr nach Berlin gelockt hatte. Adelheid Müller-Lissner

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