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Schlechte Leistungen von Neuntklässlern: Nicht allein die Politik ist für die Bildungsmisere verantwortlich
Seit wie vielen Jahren warnen Bildungsforscher, dass mehr und mehr Schüler die Mindestanforderungen nicht erfüllen? Der vielbeschworene „Wissensstandort Deutschland“ braucht endlich einen Plan.

Stand:
Und wieder schneiden deutsche Schülerinnen und Schüler im „IQB-Bildungstrend“ schlecht ab. Aber ist das eigentlich noch eine Neuigkeit? Regt das überhaupt noch jemanden auf, dass Deutschland seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten sehenden Auges die Ausbildung seines Nachwuchses und damit seine Zukunft verspielt?
Jahr für Jahr attestiert die Bildungsforschung Kindern und Jugendlichen in Deutschland einen Rückgang ihrer Kenntnisse vor allem in den Fächern Mathematik, Physik, Chemie und Biologie. Und Jahr für Jahr beteuert die Bildungspolitik, das Problem erkannt zu haben und anzugehen, ohne dass sich in den Schulen spürbar etwas ändern würde – sei es in der Betreuungsdichte, der technischen Ausstattung oder auch nur der Sauberkeit der Toiletten und Genießbarkeit des Mittagessens.
Doch in diesem Jahr ist der Leistungseinbruch besonders dramatisch. Neun Prozent aller Neuntklässler bundesweit erfüllen die Mindestanforderungen in Mathematik nicht, 34 Prozent verpassen die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss. Es bestünden Lernrückstände von einem Jahr, so das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen.
Als Ursachen nennen die Forschenden die Folgen der Corona-Pandemie und den gestiegenen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund in den Schulen. Die Leistungsrückschritte beträfen aber alle, unabhängig vom sozialen oder familiären Hintergrund.
Schlechte Noten für das System
Wird das nun endlich wachrütteln? Wird dieser erneute „Tadel“ für die Bildungspolitik endlich für den oft beschworenen „Ruck“ und bessere Bedingungen für Lehrende wie Lernende in den Schulen sorgen?
Das Wissen, was zu tun wäre, gibt es seit langem. Aus der Wissenschaft, aber auch aus der Praxis, den Schulen. „Man fühlt sich wie die Feuerwehr, die viele kleine Feuer gleichzeitig löschen soll“, schildert eine Berliner Lehrerin die Situation. „Natürlich ruft man da zunächst nach schneller Verstärkung.“ Aber um das Feuer langfristig zu verhindern, müsse man Ursachenforschung betreiben und das System Schule entsprechend korrigieren – vorsichtig und vor allem langfristig „und nicht alle vier Jahre neu“.
Eine zweifelsohne komplexe Aufgabe. Zumal sich schon vor der Einschulung etwas ändern müsste. Unisono drängt die Bildungsforschung auf eine Stärkung der frühkindlichen Bildung. Denn wer in der Kita schon Deutsch übt, hat es später auch in Fächern wie Mathe, Physik oder Geschichte leichter.
Mehr „schwierige“ Kinder
Und das gilt ausdrücklich nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund. Wer mit Grundschullehrerinnen (und den wenigen Grundschullehrern) spricht, hört immer wieder, dass auch das Niveau an Fähigkeiten der „alteingesessenen“ frisch Eingeschulten heute viel stärker schwanke als noch vor zwanzig Jahren. Viele Lehrkräfte haben den Eindruck, es gäbe deutlich mehr „schwierige“ Kinder. Nicht nur jene, bei denen Deutsch Zweitsprache ist, bräuchten daher in den ersten Schuljahren sprachliche oder anderweitige pädagogische Unterstützung.
Am besten erreichen ließe sich das, wenn in möglichst kleinen Klassen mindestens zwei Lehrende arbeiten könnten. Damit sich eine Lehrkraft ums Unterrichten, die andere um die individuellen Defizite der Kinder kümmern kann. Zwar gibt es solche „Doppelsteckungen“ auf dem Papier bereits, in der Realität reichen die personellen Kapazitäten jedoch meist nicht aus – Stichwort Lehrermangel.
Auch die Ganztagsschule müsste mehr als Kinderaufbewahrung sein und das vormittags Gelernte nachmittags üben und festigen. Pädagogische Ansätze, das eher spielerisch als mit noch mehr Druck zu tun, gibt es genug.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Politik solche Ratschläge endlich einmal konsequent befolgen bzw. die Rahmenbedingungen dafür schaffen würde, bundesweit. Es wäre jedenfalls sinnvoller, als auf dem Rücken der Schulen und auf Kosten von Kindern parteipolitische Polemik zu betreiben und von „Migrationsquoten“ in Klassen zu faseln.
Doch allein die Politik für die Bildungsmisere verantwortlich zu machen, greift zu kurz.
Auch das System Schule selbst muss mehr Bereitschaft zur Modernisierung mitbringen und die eigene Verantwortung an den sinkenden Leistungen der Schülerinnen und Schüler anerkennen. Noch immer nutzen zu viele Lehrende ihre privilegierten Beschäftigungsverhältnisse dafür aus, auf alten Lehrkonzepten zu beharren, statt sich pädagogisch auf die aktuellen Bedingungen einzustellen und aus den Erkenntnissen der Forschung zu lernen – für besseren Unterricht.
Und auch Eltern müssen sich fragen, ob es ihren Kindern letztlich guttut, wenn sie zulassen, dass der Nachwuchs am Smartphone hängt, statt Bücher zu lesen. Denn wenn in Familien nicht mehr vorgelesen, beim Abendessen nicht mehr kommuniziert und Bildung und die Anstrengung, sie zu erwerben, nicht mehr als erstrebenswert vermittelt wird, dann kann das kein System und kein Geld der Welt auffangen.
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