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Die Grundschulen sind in Deutschland chronisch unterfinanziert. Der VBE fordert eine Fachkräfteoffensive mit Bundes- und Landesmitteln.

© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Massiver Lehrermangel prognostiziert: Verband fürchtet Lücke von bis zu 155.000 Lehrern in 2030

Der Lehrkräftemangel in Deutschland wird sich in den kommenden Jahren noch verschärfen, besagt eine neue Studie. Die Politik sah das bislang anders.

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) schlägt Alarm. Der Lehrkräftemangel in Deutschland werde sich in den kommenden Jahren so stark ausweiten, dass die Qualität von Bildung, Bildungsgerechtigkeit und sogar die Zukunft des Landes „massiv bedroht“ seien. Nach Ergebnissen einer von der Lehrergewerkschaft VBE beauftragten Studie würden im Jahr 2030 an deutschen Schulen ausgehend von einem Anstieg der Schülerzahl von 9,2 Prozent mindestens 81.000 Lehrer:innen fehlen.

Hinzu käme noch ein zusätzlicher Bedarf von 74.400 Lehrkräften bei Umsetzung von geplanten schulpolitischen Reformen in den Bereichen Ganztagsschule, der Inklusion und der Unterstützung von Kindern in herausfordernden sozialen Lagen. Hintergrund der Entwicklung sei der unerwartete Geburtenanstieg der Jahre 2010 bis 2020 und die Flüchtlingsbewegung 2015 bei kaum steigenden Absolventenzahlen in der Lehrkräfteausbildung. 

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Die Kultusministerkonferenz (KMK) kommt für diesen Zeitraum in ihrer Untersuchung vom Dezember 2020 lediglich auf einen Mehrbedarf von 14.000 Lehrer:innen, ein zusätzlicher Bedarf durch schulpolitische Reformmaßnahmen  werde dabei nicht bedacht, kritisiert der Bildungsforscher Klaus Klemm, der die Untersuchung für den VBE vorgenommen hat. 

Die Berechnungen der KMK zum Einstellungsbedarf bis 2030 bezeichnete Klemm zwar als belastbar. Doch die Zahlen würden davon ausgehen, dass der Status Quo bestehen bleibe. Dabei werde ignoriert, dass bereits angekündigte Reformen zusätzlichen Bedarf verursachten. Klemm errechnet bei Umsetzung schulpolitischer Reformen vor dem Hintergrund der Lücke zwischen Lehrkräftebedarf und -angebot für das Jahr 2030 insgesamt einen Mangel von bis zu 155.000 Lehrer:innen. 

Schülerzahlen nicht durch Lehramtsstudierende gedeckt 

Die KMK schätzt das Angebot an Lehrkräften bis 2030 auf 349.000, während Bildungsforscher Klemm nur von 286.000 ausgeht, er erwartet also rund 63.000 Lehramtsabsolventen weniger von den Unis als die Bildungsminister:innen.  „Die Modellrechnungen der KMK zum Neuangebot originär ausgebildeter Lehrkräfte bis zum Jahr 2030 sind höchst unseriös“, kommentierte Klemm. „Hier wird das Angebot und Lehrkräften in den kommenden Jahren massiv unterschätzt.“

Die Annahmen der KMK seien weder durch jüngste Entwicklungen bei den Studierendenzahlen im Lehramtsstudium noch durch die Zahl der Schulabsolvent:innen, die ein Lehramtsstudium beginnen können, in den kommenden Jahren gedeckt. „Selbst ein exorbitant hoher, kurzfristiger und kaum zu realisierender Zuwachs bei den Studierendenzahlen im Lehramt würde ein Plus an vollständig ausgebildeten Lehrkräften erst gegen Ende der Zwanzigerjahre erzielen“, so der renommierte Bildungsforscher Klemm.

VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann spricht von einer „riesigen Mogelpackung“ und „Schönfärberei“ seitens der KMK. Die Politik müsse umgehend die „dringend notwendigen Konsequenzen“ aus den neuen Studienergebnissen ableiten. „Aus dem im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien proklamierten Jahrzehnt der Bildungschancen wird sonst ein Jahrzehnt der Bildungsverliererinnen und -verlierer“, sagte Beckmann am Dienstag zur Vorstellung der Studie.

Eine eigene Untersuchung habe der Verband in Auftrag gegeben, da man bezweifle, dass die auf Grundlage von Daten aus den einzelnen Bundesländern erstellten Berechnungen der KMK, die eher einen moderaten Lehrkräftemangel bis 2030 sehen, der Realität entsprechen. 

Dass  Geburtenanstieg und Flüchtlingsbewegung den Lehrkräftebedarf beeinflusst haben, sei zudem nur ein Teil der Wahrheit . Steigende Schülerzahlen seien von der Politik gerne als Freibrief für versäumte Maßnahmen genutzt worden. „Denn die Personalausstattung an den Schulen war schon vor 2015 auf Kante genäht “, so der Verbandschef Beckmann.

Das deutsche Bildungssystem sei insbesondere im Grundschulbereich „massiv unterfinanziert“. Ein Umstand, der in den vergangenen Jahren auch in OECD-Berichten wiederholt festgestellt wurde. Die aktuellen Herausforderungen der Pandemie, Integration, Inklusion, Digitalisierung und Ganztagsschule seien so nicht zu bewältigen, zumal viele Lehrer:innen bereits oberhalb ihrer Belastungsgrenze arbeiten würden.

KMK will Prognosen weiterentwickeln

KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) sagte als Reaktion auf die Studie gegenüber dem Tagesspiegel, dass alle 16 Bundesländer sich der Lage bewusst seien und landesspezifische Maßnahmen ergreifen würden. Der bereits in der Vergangenheit prognostizierte Engpass werde durch die Folgen steigender Geburtenzahlen und Zuwanderung und vieles mehr noch verstärkt. „Solche Ergebnisse von Studien sind für uns also nicht neu und wir haben die Entwicklung im Blick“, sagte Prien. Man befinde sich in einem fortwährenden Austausch darüber, wie die Datengrundlage für bildungspolitische Entscheidungen verbessert und Prognosen methodisch weiterentwickelt werden können. 

Prien verwies auch auf Bemühungen, die Zahl der Lehramtsabsolventen von den Universitäten zu erhöhen. „Erstmals in ihrer Geschichte hat die KMK bereits 2020 in einem wegweisenden Beschluss ihre gemeinsame Verantwortung für die Ausbildung und die Gewinnung von Lehrkräften herausgestellt.“ Dabei gehe es vor allem um mehr Studienplätze, mehr Plätze im Vorbereitungsdienst und regelmäßige Modellrechnungen zum künftigen Angebot und Bedarf an Lehrkräften.

Auch kündigte Prien eine konsistente Qualifizierung der Lehrkräfte an, vor allem auch für Quer- und Seiteneinsteiger:innen.

VBE fordert bundesweite Fachkräfteoffensive

Der VBE leitet aus den Berechnungen der eignen Studie nun eine Reihe von Forderung an die Politik ab. So müsse umgehend eine bundesweite Fachkräfteoffensive eingeleitet werden. Diese Offensive müsse im Sinne des im Koalitionsvertrags der Bundesregierung verankerten Kooperationsgebotes im Schulterschluss zwischen Bund, Ländern und Kommunen umgesetzt und voll ausfinanziert werden.

Zudem soll nach Vorstellung des Verbandes die Lehramtsausbildung dringend verbessert werden. „Es braucht eine Erhöhung der Studienplätze bei gleichzeitiger Verbesserung der Studienbedingungen und der Studienbegleitung, auch um eine Reduzierung der Abbruchquoten zu erzielen“, sagte Beckmann. Darüber hinaus müssten Schulabsolvent:innen über eine bundesweite Kampagne zur Gewinnung von Lehrkräften gezielt angesprochen werden, um den „zwingend notwendigen schnellen Zuwachs“ an Studierenden zu erzielen.

Um die schulpolitischen Reformmaßnahmen Ganztag, Inklusion, Integration und Schüler-Unterstützung bedarfsgerecht umzusetzen, sei ein Zwei-Pädagogen-System an den Schulen nötig. Dadurch werde der Lehrkräftebedarf allerdings weiter stark erhöht. „Hier muss die Politik endlich Antworten liefern, wie sie dies bewältigen will“, so der Verbandsvorsitzende. Auch könne der Lehrkräftemangel durch den Aufbau und die Integration von multiprofessionellen Teams abgemildert werden.

Die Integration von Seiteneinsteiger:innen oder Pensionisten zur Abmilderung des Lehrkräftemangels müsse zudem stetig evaluiert werden. Auch müsse für Seiteneinsteiger:innen eine mindestens sechsmonatige Vorqualifizierung grundsätzlich sichergestellt sein.
Um die große Lücke beim Lehrerbedarf in Zukunft schließen zu können, sollten nach Beckmanns Vorstellung Menschen mit bestimmten Qualifikationen gewonnen und weiter qualifizieren werden, damit sie die pädagogischen Aufgaben an den Schulen wahrnehmen können. „Seiteneinsteiger müssen am Ende mit einer vollständigen Lehramtsbefähigung abschließen, damit kein Zwei-Klassen-System von Lehrkräften in den Kollegien entsteht.“ Darüber hinaus müssten an den Hochschulen möglichst rasch die Studienkapazitäten für Lehramt erweitert und die Studienbegleitung verbessert werden, um die Abbrecherquote abzusenken.

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