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1943 warten Kinder in Theresienstadt auf den Transport nach Auschwitz.

© picture-alliance / Mary Evans Picture Library

NS-Verbrechen in Theresienstadt: Vorgetäuschte Fürsorge, gnadenlose Vernichtung

Theresienstadt gilt vollkommen zu Unrecht als privilegiertes Altersghetto, in dem gemalt und musiziert wurde. In Wirklichkeit war es Teil der „Endlösung“.

Terezin, nordwestlich von Prag in der Tschechischen Republik, ist ein Ort, dessen Melancholie sich hinter der Architektur einer barocken Idealstadt verbirgt. Der Ort wurde zur Metapher für den Verrat der Deutschen an den Juden, für Illusionen und vergebliche Hoffnung, für Täuschung und Vernichtung. Die Wahrnehmung ist bis heute widersprüchlich: Manche beharren darauf, es sei ein Konzentrationslager gewesen, andere glauben, hier hätten Privilegierte bei kulturellen Aktivitäten den Holocaust überlebt.

Einzigartig war das Ghetto Theresienstadt jenseits seiner Mythen auf jeden Fall. Die nordböhmische Garnison, die Kaiser Joseph II. seiner Mutter zu Ehren Theresienstadt nannte, wurde 1780 als spätbarocke Bastionärsfestung erbaut. Österreich-Ungarn wollte sich durch das Bauwerk, ein Höhepunkt der Fortifikationsarchitektur, gegen Einfälle aus dem Westen schützen. Als es 1866 ernst wurde, marschierten die Preußen jedoch einfach an Theresienstadt vorbei und schlugen die Österreicher bei Königgrätz. Die Festung diente mit ihren Kasernen bis 1918 als k. u. k. Militärstadt, beherbergte dann bis 1939 tschechische Soldaten und wurde nach 1945 wieder Garnison der tschechoslowakischen Republik.

Die Jahre 1939 bis 1945 sind die düstersten der Geschichte des Städtchens. In der „Kleinen Festung“, einem der beiden Komplexe der Anlage, richtete die Gestapo Prag 1940 ein Lager mit der Bezeichnung „Polizeigefängnis“ ein. Die benachbarte „Große Festung“ diente seit November 1941 als Sammellager für die tschechischen Juden. Am 19. Januar 1942 besuchte Adolf Eichmann, der „Judenreferent“ im Reichssicherheitshauptamt, Theresienstadt. Als Ergebnis des Ortstermins verkündete Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942 den NS-Funktionären in der Wannsee-Konferenz, dass im Zuge der „Endlösung“ in Theresienstadt ein Ghetto eingerichtet würde für prominente deutsche Juden, für Alte und insbesondere für deutsch-jüdische Teilnehmer des Ersten Weltkriegs. Das klang nach der Privilegierung einer Personengruppe, die das wohl auch so auffasste.

Deutsch-jüdischen Patrioten glaubten an die Fürsorglichkeit des Reichs

Erst bei der Ankunft ab Sommer 1942 erkannten die jüdischen Honoratioren, dass ihre Kriegsauszeichnungen und sonstigen Dekorationen dort wertlos waren. Zunächst hatten die deutsch-jüdischen Patrioten an die Fürsorglichkeit des Deutschen Reiches geglaubt, das ihnen in „Heimeinkaufsverträgen“ Kost und Logis sowie medizinische Betreuung in einer Art Altenkolonie versprach. In Wirklichkeit wurden sie aber nur ihres Vermögens beraubt, um sie im Ghetto zugrunde gehen zu lassen oder von dort aus weiter nach Auschwitz zu deportieren.

Das Elend der Unterkünfte, entsetzliche sanitäre Umstände, Hunger, Krankheiten und Verzweiflung rafften viele gleich dahin. Die anderen fürchteten den Transport nach Osten, bangten um Angehörige, hofften auf das eigene Überleben im Elend. Um Platz zu schaffen für die Juden aus Deutschland und Österreich, war im Juni 1942 die tschechische Zivilbevölkerung des Städtchens evakuiert worden.

Viele hielten die Funktionäre des "Judenrats" für ihre eigentlichen Peiniger

Oberste Befehlsgewalt in Theresienstadt hatte der Kommandant. Er unterstand der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Prag, einer Dienststelle der SS. Die Festungsarchitektur machte Stacheldraht und Wachtürme überflüssig. Die äußere Bewachung oblag tschechischen Gendarmen im Auftrag der SS. Für die inneren Angelegenheiten war, der absoluten Willkür des SS-Befehlshabers unterworfen, der „Judenrat“ zuständig.

Die Bürokratie der jüdischen „Selbstverwaltung“ hat nicht nur die in Theresienstadt Inhaftierten irritiert. Sie wähnten die Funktionäre privilegiert, hielten sie für ihre eigentlichen Peiniger und nahmen nicht wahr, dass sie, einschließlich des „Judenältesten“, den die Deutschen nach Belieben malträtierten, absetzten, ermordeten, in Wirklichkeit keine Vorrechte genossen. Der Chronist des Ghettos, H. G. Adler, hat in seinem 1955 erschienenen monumentalen Werk den Judenrat so negativ gezeichnet, dass damit die Erinnerung nachhaltig verzerrt wurde. Denn Adler nahm die Autorität des unbestechlichen Sozialwissenschaftlers in Anspruch und gleichzeitig den Nimbus des Zeugen.

Auch der "Aufbau" fiel auf die Propaganda vom "Altenghetto" herein

Mythen über Theresienstadt entstanden früh. Im Sommer 1943 war im „Aufbau“ in New York zu lesen: „Zum Unterschied von den Ghettos in Polen, in denen der Tod eine traurige Ernte säte, besonders unter den Alten und Älteren, leben in Theresienstadt viele alte Juden, die durch genügend Lebensmittel und medizinische Hilfe am Leben erhalten werden.“ Und auch die Enzyklopädie des Holocaust, im Auftrag von Yad Vashem von namhaften Gelehrten herausgegeben, faselt, dass nach der Ausquartierung der nichtjüdischen Bewohner ab Juli 1942 „das von Ghettomauern eingeschlossene Theresienstadt in mancher Hinsicht den Charakter einer freien Stadt“ angenommen habe. Törichte Urteile Ahnungsloser finden sich auch in der Theresienstadt-Belletristik.

Die Kinderzeichnungen von Theresienstadt vermitteln ein falsches Bild

Ein anderes Bild der illusionären Wahrnehmung des Ghettos Theresienstadt sind die Kinderzeichnungen. Sie sind die wohl anrührendsten Zeugnisse der Verfolgung von mehr als 10 000 Kindern, die als Häftlinge in Theresienstadt lebten. Drei Viertel der jungen Menschen unter 15 Jahren haben nicht überlebt. Die meisten wurden nach ihrer zweiten Deportation in Auschwitz ermordet. Man kann sich der emotionalen Kraft dieser Bilder nicht entziehen. In ihrer kindlichen Ästhetik vermitteln sie aber ein falsches Bild von der Wirklichkeit Theresienstadts. Man muss die Bilder entschlüsseln, um dem Eindruck der Idylle nicht zu erliegen.

Am wirkungsmächtigsten ist das Bild vom kulturellen Schaffen in Theresienstadt: Literaten und Musiker, Maler und Theaterleute haben dort komponiert und geschrieben, gezeichnet und gesungen. Kunstwerke von Rang sind in diesem Ghetto entstanden. Aber sie wurden der Situation abgetrotzt und die meisten Künstler sind ermordet worden. Sie konnten ihr Leben durch künstlerisches Schaffen nicht kaufen und sie beeindruckten die nationalsozialistischen Herren des Ghettos nicht. Denen war die Kunst egal.

Das Ghetto war hoffnungslos überfüllt, die Sterblichkeit hoch

Nicht ganz egal war ihnen die Wirkung in der Welt. Deshalb stimmten sie auch widerwillig der legendären Inspektion durch eine Delegation des Roten Kreuzes zu. Dazu wurde das Ghetto in ein Potemkisches Dorf verwandelt und der Besuch war als Schmierentheater inszeniert. Der Judenälteste musste den „Bürgermeister“ geben, Kinder umjauchzten den SS-Kommandanten, gut gekleidete Flaneure mimten heitere Bürgerlichkeit. Und der Delegationschef, ein junger Schweizer, sah am 23. Juni 1944 nur, was er sehen wollte, und schrieb einen rosigen Bericht. Weil die Inszenierung schon einmal stand, befahl der Kommandant noch einen „Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“, der die Illusionen über Theresienstadt in die Nachwelt transportiert.

Theresienstadt ist ein emblematischer Ort der europäischen Geschichte. Nirgendwo kam der Zynismus der Nationalsozialisten deutlicher zum Ausdruck. Bis heute hält sich das Bild des privilegierten „Altersghettos“. Theresienstadt war aber Bestandteil des Programms der „Endlösung“ und von Hunger und hoher Sterblichkeit geprägt. Das Ghetto war hoffnungslos überfüllt und immer wieder gingen Transporte in die Vernichtungslager. Im Sommer 1943 waren 40 000 Menschen in der Großen Festung zusammengepfercht. Insgesamt wurden 141 000 Juden, vor allem aus der Tschechoslowakei, Deutschland und Österreich, aber auch aus den Niederlanden und Dänemark interniert. Überlebt haben 23 000.

In Terezin setzt die Kommune heute auf Militär-Tourismus

Die Rote Armee befreite im Mai 1945 das Ghetto. In der Kleinen Festung wurde jetzt das SS-Personal interniert. Dann diente sie als Zwangsaufenthalt für die deutsche Zivilbevölkerung als Zwischenstation der Vertreibung aus der wiedererrichteten Tschecho-Slowakei. Die 1942 evakuierten Bewohner Terezins kehrten ab 1946 zurück. Das Städtchen wurde wieder Garnison.

Mit dem Abzug des Militärs Ende der 1990er Jahre begann der Niedergang. Weniger als 2000 Menschen leben heute noch in der Stadt. Die Kommune setzt auf einen Tourismus, der Liebhaber barocker Militärarchitektur anzieht oder Freunde eines alljährlich dargebotenen Spektakels in historischen Uniformen.

Die Zukunft der Erinnerungslandschaft Theresienstadt ist ungewiss

Die vorbildliche Ghetto-Gedenkstätte kämpft dafür, dass auch an die Rolle der Stadt als Station der „Endlösung“ angemessen erinnert wird. Authentische Orte wie die Magdeburger Kaserne, das Krematorium und das Ghettomuseum verdienen große Aufmerksamkeit. Doch trotz der Empathie eines deutschen Freundeskreises und ungeachtet internationaler Projekte und EU-Mittel – für die Restaurierung der Bastionen oder ein Artilleriemuseum – ist die Zukunft der Erinnerungslandschaft Theresienstadt ungewiss.

Von Wolfgang Benz ist in diesem Jahr das Buch „Theresienstadt: Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung“ erschienen (C.H. Beck, 281 Seiten, 24,95 Euro).

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