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Nicht immer und überall konnten Corona-Patienten in den Hochphasen der Pandemie optimal behandelt werden.

© imago images/Westend61/Mareen Fischinger via www.imago-images.de

Die Toten der Coronapandemie: Ausgerechnet Schweden schneidet in Europa am besten ab

Eine neue Studie errechnet, wie oft Menschen durch die Pandemie vorzeitig starben – am Virus und durch andere Ursachen. Im europäischen Vergleich war das von Land zu Land sehr unterschiedlich.

Stand:

In den Jahren der Coronapandemie sind Menschen vorzeitig gestorben – sowohl am Virus selbst als auch an den indirekten Folgen. Doch wie groß war der Verlust insgesamt in der Rückschau? Und wie schneiden verschiedene Länder im Vergleich ab?

Eine internationale Forschergruppe hat das für 18 europäische Länder untersucht. Deutschland landet bei dem Ländervergleich im Mittelfeld. Die besten Werte haben die Forschenden allerdings für Schweden ermittelt – ausgerechnet das Land, das wegen etwas weniger strengen Pandemie-Maßnahmen mitunter in der Diskussion stand.

Für die Auswertung untersuchte eine Gruppe unter der Leitung von Forschenden des Imperial College London, der Universität Helsinki und der University College London, wie stark die Covid-19-Pandemie die Lebenserwartung in 18 europäischen Ländern beeinflusst hat. Veröffentlicht wurde die Arbeit im Fachmagazin PLOS Medicine.

Die Forschenden wollten herausfinden, wie viele Lebensjahre durch die Pandemie verloren gingen – und zwar nicht nur direkt durch Covid-19-Todesfälle, sondern auch indirekt durch andere Ursachen, etwa verzögerte Behandlungen oder die Auswirkungen von Lockdowns auf die Gesundheit.

Wie kann man wissen, was ohne die Pandemie gewesen wäre?

Für eine solche Berechnung betrachtet man zunächst, wie sich Sterblichkeit und Krankheitsverläufe vor der Pandemie entwickelt hatten. Daraus kann man ableiten, wie sich die Lebenserwartung ohne Pandemie weiterentwickelt hätte.

Basierend auf den Trends vor 2020 wurde berechnet, wie lange Menschen im Durchschnitt noch gelebt hätten, wenn sich diese Trends einfach fortgesetzt hätten. Die realen Sterbezahlen aus 2020–2022 wurden mit der Modell-Prognose verglichen. Die Differenz zeigt, wie viele Jahre durch die Pandemie „verloren“ gingen – entweder direkt durch Covid-19 oder indirekt durch die Belastung der Gesundheitssysteme.

16,8
Millionen Lebensjahre gingen zwischen 2020 und 2022 in den 18 untersuchten Ländern insgesamt verloren, vor allem in der Altersgruppe über 80 Jahre. 

Zwischen 2020 und 2022 gingen in den 18 untersuchten Ländern insgesamt 16,8 Millionen Lebensjahre verloren – das entspricht etwa 58 verlorenen Lebensjahren pro 1000 Personen. Besonders betroffen waren ältere Menschen: 60 Prozent der verlorenen Lebensjahre entfielen auf die Altersgruppe über 80 Jahre.

Die Zahlen wurden für Menschen über 35 ermittelt, da es unterhalb dieser Altersschwelle zu wenige Todesfälle für eine sinnvolle Auswertung gibt. Das Maß der verlorenen Lebensjahre berücksichtigt bei den Todesfällen auch, wie viele Jahre die Verstorbenen – gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung – noch hätten leben können. Der Tod eines 40-Jährigen fällt also stärker ins Gewicht als der eines 70-Jährigen.

Länder mit niedrigerem Einkommen stärker betroffen

Die Ergebnisse waren im Ländervergleich sehr unterschiedlich. Die höchsten Verluste hatten Estland und Polen, die niedrigsten die Schweiz und Schweden. Deutschland liegt im Mittelfeld und schneidet in der Studie besser ab als England, aber etwas schlechter als Frankreich.

Die Studie zeigt nicht, in welchem Maß einzelne Faktoren wie Lockdowns, Angst vor Ansteckung oder überlastete Gesundheitssysteme zu den indirekten Todesfällen beitrugen. Die Daten ließen aber deutliche Zusammenhänge erkennen:

  • Ärmere Länder hatten tendenziell höhere Verluste als wohlhabende.
  • Länder mit hoher Impfquote hatten tendenziell geringere Verluste als die mit niedrigerer Impfquote.
  • Männer waren allgemein stärker betroffen als Frauen.

Todesfälle nicht nur durch das Virus

Fast ein Drittel der verlorenen Lebensjahre ging nicht auf direkte Covid-19-Todesfälle zurück. Eine naheliegende Ursache für diesen Teil der erhöhten Sterblichkeit könnte der erschwerte Zugang zu medizinischer Versorgung während der Pandemie sein.

Im Jahr 2020 waren die verlorenen Lebensjahre hauptsächlich auf Covid-19-Todesfälle zurückzuführen. Diese gingen nach 2021 zurück, was mit der Einführung von Impfstoffen zusammenfällt. Die Todesfälle aufgrund anderer Ursachen stiegen jedoch von 2020 bis 2022 in den meisten der 18 Länder weiter an. Im Jahr 2022 entfiel fast die Hälfte der verlorenen Lebensjahre auf nicht-Covid-bedingte Todesfälle.

Während der Pandemie sank die statistische Lebenserwartung – und keines der 18 untersuchten Länder hatte 2022 wieder das Niveau von 2019 erreicht. In vielen Ländern war die Lebenserwartung 2022 noch deutlich niedriger als vor der Pandemie. Am besten schnitt auch hier Schweden ab, wo die Lebenserwartung fast wieder auf das vorherige Niveau zurückkehrte.

Zeitweise verringerte Sterblichkeit

In einigen Ländern war die Sterblichkeit durch Nicht-Covid-Todesursachen zeitweise niedriger als erwartet. Die Forschenden nennen dafür zwei mögliche Erklärungen:

  • Maßnahmen wie Masken, Abstandhalten oder Lockdowns könnten auch andere Krankheiten (z. B. Grippe oder Lungenentzündungen) reduziert haben.
  • Bei unheilbar kranken Menschen könnte irrtümlich eine Covid-Infektion zur Todesursache erklärt worden sein.

In welchem Ausmaß beide Faktoren beigetragen haben, kann die Studie nicht klären.

Wie schätzen Fachleute die Arbeit ein?

Die Methodik der Arbeit wird von Fachleuten übereinstimmend als verlässlich beurteilt. Die Epidemiologin Berit Lange weist jedoch darauf hin, dass die mit Covid-19 assoziierten Todesfälle durch die Studie nicht erklärt werden. „Hierzu hätten tatsächlich todesursachenspezifische Daten – die durchaus vorhanden, aber natürlich für 18 Länder schwer zusammenzutragen sind – aus den entsprechenden Ländern genauer analysiert werden müssen“, sagt die Leiterin der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.

Dass die Todesfälle auch nach Einführung der Impfstoffe weiter anstiegen, ist für Lange keine Überraschung: „Ein ansteigender Verlust von Lebensjahren, die eher nicht direkt Covid-19-assoziiert sind, ist nach Impfeinführungen natürlich sehr gut möglich, da ein Teil der durch Pandemie-Maßnahmen verursachten Versorgungseffekte erst mit Verzögerung auftreten.“

Der Biostatistiker Valentin Rousson von der Universität in Lausanne weist darauf hin, dass man die Zahlen einordnen müsse: „Was bedeuten 16 Millionen verlorene Lebensjahre in drei Jahren und 18 Ländern? Wie viel ist viel?“

In einer früheren Arbeit hatte Rousson selbst die verlorenen Jahre im Jahr 2020 berechnet. Am stärksten war bei seinem Vergleich Bulgarien betroffen gewesen. Aber auch hier hatten die Menschen weniger als ein Promille der Lebensjahre verloren, die sie ohne die Pandemie gehabt hätten. „Der Verlust betrug also etwas weniger als ein Jahr von Tausend. Für andere europäische Länder wäre der Verlust sogar noch geringer“, sagt Rousson, der sich hier allerdings nur auf das Jahr 2020 bezieht. In der gesamten Pandemie hätten die Menschen nach seiner Schätzung 0,2 Prozent (zwei Promille) ihrer Lebenszeit verloren.

„Wir können es den Menschen überlassen, zu beurteilen, ob ein solcher Verlust erheblich ist oder nicht“, findet Rousson. „Wenn es nicht so dramatisch erscheint, wäre es eine gute Nachricht nach all den strengen Maßnahmen, die gegen Covid-19 ergriffen wurden. Niemand weiß, wie hoch die Verluste gewesen wären, wenn diese Maßnahmen nicht ergriffen worden wären.“ (mit smc)

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