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Gegen das Vergessen. Im Schloss Steinort soll ein Info-Center entstehen.

© Mariusz Switulski/shutterstock.com

75 Jahre Hitler-Attentat: Wo Graf Lehndorff durchs Fenster floh

Ort des Widerstands nahe der Wolfsschanze: In Masuren ringen Deutsche und Polen um Schloss Steinort, Treffpunkt der Verschwörer gegen das NS-Regime.

Eine letzte majestätische Runde zieht der Storch noch am Himmel, bevor er auf dem großen Nest landet, aus dem vier zierliche Schnäbel hervorlugen. Das Storchennest auf dem Turm von Schloss Steinort in Masuren wirkt fast robuster als das Herrenhaus mit seiner bröckelnden Fassade und den zugeklebten Fenstern. In der kommunistischen Zeit war das Anwesen zwischen zwei Seen noch Sitz eines Landwirtschaftsbetriebs. Nach dem Untergang des Ostblocks verfiel es: Böden wurden herausgerissen, Altmetall zu Geld gemacht, im Erdgeschoss grillten Segler. Als 2009 die polnische Schwesterorganisation der Deutsch-Polnischen Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz (DPS) das Gebäude für einen symbolischen Euro kaufte, waren im ehemaligen Zuhause Heinrich Graf Lehndorffs, eines Mitverschwörers des 20. Juli, Decken eingebrochen, im Keller stand das Wasser.

Das Dorf Steinort, polnisch Sztynort, liegt auf der Großen Masurischen Seenplatte im Osten Polens, auf der Hälfte eines 130 Kilometer langen Wasserwegs. Zur russischen Grenze, die auch EU- und Nato-Außengrenze ist, sind es nur 60 Kilometer. Die dünn besiedelte Gegend gilt als Paradies für Segler.

„Steinort ist ein Juwel“, sagt Verus von Plotho, ein Enkel Heinrich von Lehndorffs, der 2009 mit anderen Familienmitgliedern die Lehndorff-Gesellschaft gegründet hat. Doch die Familie wünsche sich einen Forschungs- und Erinnerungsort im Schloss, „der auch Kulturinteressierte anziehen würde“. Im Gespräch sind eine Ausstellung über Heinrich von Lehndorff und seinen Weg in den Widerstand sowie zur 500-jährigen Geschichte der Lehndorffs am Ort. Denkbar sei auch ein west-östliches Wissenschaftskolleg, sagt von Plotho. Er hofft, dass nach der Restaurierung einige restituierte Kulturgüter aus dem Schloss – Gemälde, Bücher und Preziosen – aus dem Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg nach Steinort zurückkehren könnten.

Die Wolfsschanze liegt nur 20 Kilometer entfernt

Schon jetzt ist die Gegend ein Ziel des Geschichtstourismus. Die „Wolfsschanze“, das frühere „Führerhauptquartier“, wo vor 75 Jahren das Hitler-Attentat stattfand, liegt nur 20 Kilometer entfernt. Steinort gilt als ein wichtiger, aber bislang wenig beachteter Treffpunkt der Verschwörer gegen das NS-System, und könnte, ähnlich wie die Stiftung Kreisau auf dem früheren Gut von Helmuth James Graf Moltke in Niederschlesien, ein Gegengewicht zum „Dark Tourism“ an Orte des Schreckens sein.

Doch die Lage in Steinort ist kompliziert. Nicht nur wegen Geldmangels aufseiten der Stiftung, sondern auch, weil das Areal um das Schloss herum einem Investor gehört. Dessen Tourismuspläne müssen mit dem Denkmalschutz und der Geschichtsvermittlung unter einen Hut gebracht werden.

Er campierte schon im Biwak vorm Schloss: Wolfram Jäger, Tragwerksplaner an der TU Dresden.
Er campierte schon im Biwak vorm Schloss: Wolfram Jäger, Tragwerksplaner an der TU Dresden.

© Judith Leister

„Im ersten Schritt ging es um die Notsicherung“, erklärt Wolfram Jäger, Tragwerksplaner an der TU Dresden und gemeinsam mit einem polnischen Architekten zuständig für das Schloss. „Wir haben das Dach neu gedeckt, den Keller trockengelegt, den Mauerschwamm beseitigt und die Statik gewährleistet“, sagt der Professor, der auch schon mal im Biwak vor dem Schloss campiert hat. Jäger zeigt auf die einst reich bemalten Deckenbalken, auf denen hie und da noch Früchte oder Engel zu erkennen sind. Um eine positive Vision zu schaffen, sollen nun zwei Musterräume und ein Infocenter hergerichtet werden. Dann hätten auch die Freiwilligen aus Polen und Deutschland, die zwischen Mai und Oktober täglich um die hundert Besucher herumführen, endlich einen festen Ort.

Das heutige Schloss entstand zur Barockzeit und wurde später mehrfach erweitert. Im Foyer, zwischen den beiden Holztreppen, die heute vom nackten Sandboden in eine bislang unbegehbare erste Etage führen, sieht man eine in den letzten Jahren stark verblasste allegorische Darstellung. Sie gehörte einst zu einer Sonnenuhr vor dem Schloss. Unter den Wappen der Lehndorffs und der mit ihnen eng verwandten Dönhoffs schwebt über einer Zypressenallee ein kleiner Apoll im Triumphwagen zur Sonne. Auch in Ostpreußen kannte man die Sehnsucht nach dem Süden, gerade weil der Winter lang und Abwechslung rar war. Das Leben war geprägt von Land-, Forst- und Fischwirtschaft – und die Anwesen der Dönhoffs, Dohnas oder Eulenburgs lagen eine Tagesreise entfernt.

"Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte"

Im Jahr 1936 hatte Heinrich von Lehndorff mit Steinort eines der größten Güter Ostpreußens übernommen. Der Pferdenarr und begeisterte Jäger modernisierte es gründlich. Mit seiner Frau Gottliebe hatte er vier Töchter, eine davon ist das in den 1960er Jahren weltbekannte Model Veruschka. Im Krieg Ordonnanzoffizier im Osten, wurde Lehndorff 1941 Zeuge eines Massakers an 7000 Juden im weißrussischen Borissow, was ihn dazu bewegte, sich dem Widerstand anzuschließen. Im gleichen Jahr jedoch quartierte sich im Lehndorff’schen Schloss NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop samt Entourage ein, obwohl Hitlers Kommandozentrum in der nahe gelegenen Wolfsschanze bezugsfertig war. Von Ribbentrop wollte es bequemer haben und ließ sich sogar die Badewanne aus Berlin einfliegen.

Fortan führten Heinrich und Gottliebe im eigenen Haus ein Doppelleben. Nach außen hin stellten sie sich gut mit Ribbentrop, während Lehndorff heimlich als Verbindungsmann zwischen den Verschwörern Henning von Tresckow und Graf Stauffenberg fungierte; die Grünen-Politikerin Antje Vollmer hat ein Buch darüber geschrieben. Möglichst unauffällig verkehrten im Schloss Verschwörer wie Tresckow, Schlabrendorff und sogar Moltke. Lehndorff war es, der Stauffenberg die berühmte Botschaft von Tresckows überbrachte, die auch im Film „Operation Walküre“ mit Tom Cruise zitiert wird: „Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte. Denn es kommt nicht mehr auf den Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat.“

Als die SS vorfuhr, floh Lehndorff in Richtung Sumpf

Ihre konspirativen Gespräche führten die Verschwörer bei Kutschfahrten oder im Park mit den alten Eichen hinter dem Schloss. Das säulenbewehrte Teehaus von Carl Gotthard Langhans, dem Architekten des Brandenburger Tors, ist heute von Brennnesseln umzingelt. Georg Gietz, langjähriges Mitglied der Lehndorff-Gesellschaft, tastet sich mit der Taschenlampe seines Handys in die kleine Vorbereitungsküche vor, in der man noch die geblümten Originalkacheln sehen kann. Auch Ribbentrop soll in dem Teehaus diniert haben. Fotos zeigen ihn mit den Lehndorff-Töchtern an der Hand, blonden Mädchen in weißen Kleidern. Die Gunst der Kinder versuchte er mit zwei Ponys zu gewinnen.

Gietz zeigt auf einen Weg, der mitten in die Steinorter Wildnis führt: „Als am Tag nach dem Attentat die SS vorfuhr, ist Lehndorff hier aus dem ersten Stock des Schlosses gesprungen und in Richtung Sumpf geflohen.“ Noch am selben Tag wurde er gefasst und über Königsberg nach Berlin gebracht, wo ihm am 8. August abermals die Flucht gelang. In Mecklenburg erneut verhaftet, wurde der erst 35-Jährige am 4. September nach einem Prozess vor dem Volksgerichtshof in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Seine Frau wurde interniert, die Kinder in ein Umerziehungsheim gesteckt, wo man ihnen neue Namen gab und sie schlecht behandelte.

Die Bundesregierung hat neue Mittel für die Restaurierung zugesagt

Verus von Plotho sieht es als seine Aufgabe, an den Widerstand zu erinnern. Dass dem militärischen Widerstand bis heute so viel Skepsis entgegengebracht wird, stimmt ihn traurig: „Ich höre viele Vorurteile“, sagt er. „Das wird oft mit der adeligen Herkunft und einem vermeintlich konservativ-nationalistischen Weltbild begründet. Der Widerstand bestand aber nicht nur aus Stauffenberg, sondern war vielfältig, die Motivlagen unterschiedlich. Auch ihr Scheitern wirft man den Verschwörern vor. Das ist heute so präsent wie nach dem Krieg.“ Natürlich seien die Hitler-Attentäter anders etwa als Sophie Scholl tief in das System verstrickt gewesen. Dennoch seien sie Vorbilder, die ihr Leben eingesetzt hätten – und das gerate bei den Jungen immer mehr in Vergessenheit.

Am Ortsausgang führt ein Feldweg zur Erbbegräbniskapelle der Lehndorffs am Steinorter See. Ein laut brummender Dieselgenerator produziert dort Strom für die Handwerker. Der Ziegelbau, der Friedrich August Stüler zugeschrieben wird, ist komplett eingerüstet. Im Inneren jedoch ist er leer. Russische Soldaten seien nach dem Krieg in den Särgen auf dem See angeln gefahren, erzählt man sich im Dorf. 2018 wurde der Kapelle beim Richtfest wieder ein Kreuz aufgesetzt, das die Lehndorff-Familie gespendet hat.

Für dieses Jahr hat die Bundesregierung erneut Mittel für die Restaurierung von Schloss Steinort zugesagt. Unterdessen stehen die jungen Störche vom Schlossturm am Nestrand, spreizen ihre Flügel und hüpfen versuchsweise, als ob sie abheben wollten.

Judith Leister

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