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Stanislaw Lem im Jahr 2006, damals im Alter von 84 Jahren. Er starb 2007.

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Zum 100. Geburtstag von Stanislaw Lem: Die Realität der Fiktion

Stanislaw Lem schuf eindrückliche außerirdische Welten, wollte aber nie „Science-Fiction-Autor“ genannt werden. An diesem Sonntag wäre er 100 Jahre geworden.

Zeit seines Lebens hat sich Stanislaw Lem (1921-2006), der am Sonntag 100 Jahre alt geworden wäre, dagegen verwehrt, Science-Fiction-Autor genannt zu werden. Natürlich war er selbst an dieser Etikettierung nicht ganz schuldlos, denn wer einen Großteil seiner literarischen Sujets in außerirdische Welten verlagert, von denen „Robotermärchen“ und „Sterntagebücher“ künden, dem mag es leicht passieren, dass er im Regal des Buchladens neben Perry Rhodan landet.

Stanislaw Lem ist durch die populären Welten von „Solaris“ oder die skurrilen Abenteuer des Raumpiloten Ijon Tichy - eines „Schwejk als Weltraumfahrer“, wie Siegfried Lenz ihn nannte – auch im Blick seines Lesepublikums derart in futuristische Sphären entrückt, dass leicht in Vergessenheit gerät, in welcher realen Zeit und Umgebung der Schriftsteller lebte.

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Lem verbrachte seine Jugend in den „Bloodlands“ Europas zwischen Hitler und Stalin, mit einem raschen Wechsel politischer Verhältnisse und einfallender Besatzer. Hier erlebte er, wie er schrieb, „das arme, aber unabhängige“ Vorkriegspolen, „die Pax Sovietica in den Jahren 1939-1941, die deutsche Besatzung, das zweite Kommen der Roten Armee, die Nachkriegsjahre in einem völlig anderen Polen“.

„Sich von dem Gewicht der Erinnerung befreien"

Sein erster Roman „Das Hospital der Verklärung“ war ein überaus realistisches Werk, noch dazu mit dem Blick in einen historischen Abgrund: Beschrieben wird der Patientenmord an den Bewohner:innen einer Nervenheilanstalt während des Zweiten Weltkrieges durch die deutschen Besatzungstruppen. Kulparkow, eine Anstalt nahe Lems Heimatstadt Lemberg und Schauplatz grausamer Krankenmorde, diente hier offenkundig als Vorlage.

Als Motiv für seinen Roman nannte Lem die Absicht, sich „von dem Gewicht der Erinnerung zu befreien“, zugleich aber „auch, um nicht zu vergessen: das eine konnte ja durchaus mit dem anderen einhergehen“.

Dieser Erstling ist hinter den Spiralnebeln der späteren Bestseller des Autors lange Zeit weitgehend verborgen geblieben. Doch trägt der Text dazu bei, eine wesentliche biografische Dimension von Stanislaw Lem zu erhellen: seine eigene und familiäre Erfahrung von Gewaltherrschaft und Besatzungszeit.

Lem war studierter Mediziner

Wie sein Vater war Stanislaw Lem studierter Mediziner. Dessen Lebensweg, aber auch seine eigenen Erfahrungen brachten ihn auf eines seiner Lebensthemen, den „Zufall“, als einer maßgeblichen Konstante des Seins. So entging sein Vater als ehemaliger Arzt der österreichisch-ungarischen Armee nach der russischen Revolution nur knapp der Erschießung als „Klassenfeind“.

Auch Lem selbst entkam mitunter nur knapp dem Unheil, als er unter deutscher Besatzung heimlich Waffen für den polnischen Untergrund transportierte. Diese Erlebnisse begründeten es, „daß es kein Zufall ist, welche Rolle ich dem Zufall als Gestalter des Schicksals in meinem Werk beigemessen habe“ – Überlegungen, die den Autor zu einer zweibändigen „Philosophie des Zufalls“ inspirierten.

Seit der intensivierten Holocaust-Forschung in den 1980er-Jahren berichtete Lem vereinzelt über seine Erfahrungen: Dass die Deutschen „außer Vater und Mutter meine ganze Familie ermordet haben“, erfuhren die bundesdeutschen Leser:innen 1986, als Lem die Einleitung zu Wladyslaw Bartoszewskis Textsammlung „Aus der Geschichte lernen?“ verfasste.

„Solaris“, hier die Verfilmung von Andrei Tarkowski von 1972, ist eines der bekanntesten Werke vo Lem.
„Solaris“, hier die Verfilmung von Andrei Tarkowski von 1972, ist eines der bekanntesten Werke vo Lem.

© mauritius images / Collection Ch

Wie sein Sohn Tomasz Lem erst kürzlich in Erinnerungen preisgab, gehörte es zudem zu den dramatischsten Erfahrungen seines Vaters, dass er unter Aufsicht der Deutschen verwesende Leichen aus einem Keller mit Häftlingen tragen musste, die von den sich zurückziehenden Sowjets erschossen worden waren. Es waren diese persönlichen „Durchgänge durch ein Katastrophengebiet“, die Lems Ansprüche an die Futurologie und deren Möglichkeiten als ernsthaftes Genre bestimmten.

Aus Lems Sicht lag der einzig erstrebenswerte Weg der Science-Fiction in der „Weiterentwicklung derjenigen Ausgangspositionen“, die H.G. Wells im Jahr 1898 mit seinem Roman „The War of the Worlds“ errichtet hatte. „Er ist ja diesen ersten Feldherrnhügel hinaufgestiegen, von dem aus man die Gattung in einer Extremlage beobachten kann. Er hat ein Katastrophengebiet vorausgesehen, und zwar richtig: ich habe das im Krieg feststellen können, als ich den Roman etliche Male las.“ Denn der Zweite Weltkrieg habe das Werk „durch eine neue, grausame Bedeutung aktualisiert“.

Das Böse im Menschen blieb Kernthema von Lem

Menschen aus seiner Generation würden sich, „gerade in diesem so schrecklich heimgesuchten Lande“, daran erinnern, „wie wenige Bücher es damals gab, die man lesen konnte, ohne unwillig zu werden“ angesichts der realen Kenntnis der „Mechanismen der Zerschlagung einer Kultur“. Und dabei sei es unerheblich gewesen, dass „das, was uns zu zermalmen drohte, eine Invasion von Menschen war, die von einer Doktrin des Völkermords getrieben waren, während eine Vernichtungspolitik desselben Umfangs in Wells’ Roman auf eine erfundene Invasion vom Mars zurückgeht“.

Das „Böse“ im Menschen, kriegerische Auseinandersetzungen und Tyrannei blieben in vielerlei Gewand das Kernthema des Autors. So auch in „Die Stimme des Herrn“, in Polen 1968 erschienen. Der Protagonist, der Mathematiker Peter Hogarth, ist unschwer als Alter Ego des Schriftstellers zu erkennen.

Ein außerirdisches Signal für die Menschheit

Die Menschheit erhält in diesem Roman ein außerirdisches Signal, und Lem spielt die Konsequenzen durch: Wissenschaftler verschiedener Disziplinen sprechen sich gegenseitig die Deutungsmacht ab – am Ende wird aus Informationsbruchstücken der himmlischen Botschaft eine neue Massenvernichtungswaffe hergestellt.

Lem sah hier die Gefahr der Verrohung von der Evolution selbst ausgehen: „Wir haben uns an Megatote gewöhnt. Unsere Fähigkeit, uns anzupassen und – dadurch bedingt – alles zu akzeptieren, ist eine unserer größten Gefährdungen. Wesen, die anpassungsmäßig hochflexibel sind, können nicht über eine Moral verfügen, die nicht auch dehnbar wäre“, lässt er Hogarth in „Die Stimme des Herrn“ feststellen.

Stanislaw Lem beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit Physik und Metaphysik.
Stanislaw Lem beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit Physik und Metaphysik.

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Zeit seines Lebens hat sich Lem mit Physik ebenso beschäftigt wie mit Metaphysik, mit der biologischen ebenso wie mit der technischen Evolution. Trost in einer religiösen Deutung konnte er angesichts der menschlichen Verheerungen nicht finden. Doch schätzte er die seelisch heilsame Wirkung von Religionen, für deren „schlaueste Erfindung“ er es hielt, dass sie „die reale Welt um einen transzendenten Anbau ergänzen, in dem alles repariert wird“. Und mit ernster „Hochachtung“ betrachtete er die „moralischen Gebote, die uns unsere Nächsten und sogar unsere Feinde zu lieben heißen“.

Er verachtete Verschwörungstheorien

Blanke Verachtung hegte Lem indessen für Aberglauben, Scharlatanerie und Verschwörungstheorien. In beißenden Glossen veralberte er die Pseudowissenschaft eines Charles Berlitz oder Erich von Däniken, die millionenfache Auflagen erzielten. Und er war zornig über die „pseudoaufgeklärten Massen“, die „sich heute des Glaubens an den Herrgott schämen, doch sie schämen sich nicht, falsche Surrogate zu suchen und zu gebrauchen. Sie nehmen viel eher die Existenz fliegender Untertassen als Engel und eher das ,Bermuda Dreieck’ als die Hölle zur Kenntnis.“

Lem bedauerte, dass solcher „metaphysischer Trödel“ offenbar sehr gesucht sei, als „ein Gegengift“ zum „wichtigtuerischen apodiktischen Ton der Wissenschaft“.

Wichtigtuerisch waren Lems Darlegungen nie, auch nicht in seinem naturwissenschaftlichen Hauptwerk, der „Summa technologiae“, in der er die Erkenntnismöglichkeiten summierte und in die Zukunft extrapolierte. Wie viele seiner Generation wurde Lem von den Hoffnungen in die Kybernetik als gesellschaftliches Steuerungsmodell enttäuscht. Doch nahm er es mit Humor und parodierte im Gegenzug die Technikgläubigkeit.

Zu Lebzeiten fand Lem keinen Trost

So fasste Lem 1971 die „Pathologie der sozialistischen Verwaltung“ im Polen der Ära Gierek in einem Essay augenzwinkernd in Begriffe der Kybernetik: Der staatliche „Automat“ erzeuge seine eigene Illusion, da sich das System wirksam gegen gesellschaftliche Impulse abschotte. Die Zensur wurde aktiv und beschlagnahmte diese Kritik. Hätte der Autor es damals wohl für möglich gehalten, dass in Polen genau 50 Jahre später ein „Year of Lem“ zu Ehren seines 100. Geburtstages gefeiert werden würde?

Zu seinen Lebzeiten fand Lem angesichts des Leids, das die deutsche Besatzungsmacht seiner Familie und seinem Land zufügt hatte, keinen Trost, aber wohl doch einen kleinen Moment der Versöhnung. Auch dies geschah – wie könnte es anders sein – per „Zufall“. So hielt Lem 1986 fest: „Ich erinnere mich bis auf den heutigen Tag an den Augenblick, als ich (diese Überzeugung hege ich) vor mehr als dreißig Jahren die Aussöhnung mit den Deutschen erlebte. Damals probierte ich Schuhe in einem Berliner Warenhaus an, als ein vielleicht vierjähriges Kind auf mich zukam und in seinem kindlichen Deutsch auf mich einplapperte, um mir Bilder in einem gerade gekauften Büchlein zu zeigen.“

Die „vollkommene Unschuld des kleinen Jungen“ erwies sich als „Argument für mein Gedächtnis“. Doch „das Gedächtnis zu einem weißen leeren Blatt zu machen, stand nicht in meinen Kräften“.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Museum Berlin und assoziierte Forscherin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Der Beitrag basiert auf einem längeren Text, der in den "Zeithistorischen Forschungen" erschienen ist .

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