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Bloß weg: 150.000 Berliner:innen verlassen die Stadt jedes Jahr.

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Aber hier leben? Nein, danke!: Warum Menschen Berlin verlassen – und warum sie wiederkommen

„Zu groß, zu schmutzig, zu laut“: 150.000 Berliner:innen verlassen die Hauptstadt jedes Jahr. Was bewegt sie, zu gehen – und wieder zurückzukommen? Eine Ode an Baulücken und zerbrochene Jugendträume.

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Hipster, Dreck und explodierende Mieten: 150.000 Berliner:innen kehren der Hauptstadt jedes Jahr den Rücken. Ihr geliebtes Berlin existiert nicht mehr. Oder etwa doch? Drei Ausreißer:innen haben uns verraten, warum sie Berlin verlassen haben – und drei, warum sie nach Jahren zurückgekehrt sind. Von Trennungsschmerz und Liebesschwüren.

Hier leben? Never ever!

„Vor 13 Jahren habe ich meiner Heimatstadt den Rücken gekehrt. Ich habe die Wende genossen, aber als Berlin richtig ‚hip’ wurde, wurde es ungemütlich. Die schwäbischen Latte-Macchiato-Muttis aus Prenzlauer Berg und die sonstigen Dialekte schlugen mir auf mein Berliner Gemüt. 2009 bin ich in die norddeutsche Provinz gezogen und habe es trotz der Sturheit und Spießigkeit der Bewohner nie bereut – auch wenn es zunächst ein Kulturschock war.

Hier leben? Never! Angela Hoff ist weggezogen aus Berlin.

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Ich fahre regelmäßig nach Berlin und fühle mich jedes Mal bestätigt. Baustellen ohne Ende, Dreck, chaotische Verkehrspolitik. Ich vermisse das nicht. Ich liebe meine Geburtsstadt und wehe, jemand anderes macht sie madig! Aber hier leben? Never ever! Zu groß, zu schmutzig, zu laut. Millionenstadt halt, morbider Charme, den man mögen und aushalten können muss.“ – Angela Hoff

 Startups, Unternehmer, knallharte Typen – darauf war Berlin nicht vorbereitet

„Schon als ich 2002 nach Berlin zog, konnte man in der Abendsonne des Szenebezirks Prenzlauer Berg sitzend das Geraune vom ‚früher war alles besser’ hören. Als frisch Zugezogener nahm ich das mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Gleichgültigkeit und Häme auf, war doch die hotte Zeit der jammernden Ü40er offensichtlich vorbei. Ein paar Jahre später, jetzt in Neukölln, war ich selbst an der Reihe, hip und hot zu sein. Wohlgemerkt war NK44 damals noch das, was heute nur noch als Ruf übrig ist. Dunkel, gefährlich und billig.

Das Sterben des alten Berlins hängt am Verschwinden der Alles-ist-möglich-Mentalität, der Träumerei und der Freiräume. Aber nicht nur die Lofts, Fabrikruinen und spottbilligen Altbaubutzen sind verschwunden, es ist auch was gekommen. Startups, Unternehmer, knallharte Typen. Darauf war Berlin nicht vorbereitet! Dass es Leute gab, die zwar so alt waren, so aussahen und auf denselben Partys rumhingen wie wir, die sich aber nicht eine Wohnung kauften, sondern gleich das ganze Haus, das hat keiner kommen sehen. Während Berlin sich noch lang die roten Äugelein rieb, war die City schon verkauft.

Ein großer Teil dessen, was Berlin so angenehm, entspannt und schön gemacht hatte, die Schluffigkeit, der Idealismus, das ewig spielerische, improvisierte und nie so ganz ernst gemeinte Ausprobieren, hat die Stadt zum perfekten Opfer für Leute gemacht, die einfach einen Zacken schärfer drauf waren als wir. Tja, und jetzt ist fast alles weg vom Charme der frühen Jahre, dafür ist alles voller, krasser, geiler. Könnt ihr machen, ohne mich, ich bin raus!

Könnt ihr machen, ohne mich, ich bin raus! Tobias Jall lebt nicht mehr in Berlin.

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Es waren wunderbare Jahre und ich bin mir sicher, wer heute mit Anfang 20 gerade in Berlin ankommt, wird die Zeit seines oder ihres Lebens haben. Aber eben anders. Und irgendwo trifft diese Person dann vielleicht einen alten Sack, der erzählt, wie es früher einmal war. Nicht, dass das irgendjemand hören wollte.“ – Tobias Jall

Die Stadt ist erwachsen geworden

„Es ist wie eine Ehe, die zu Ende gegangen ist, weil man sich nichts mehr zu sagen hat. Wir haben festgestellt, dass das Berlin, das uns Mitte bis Ende der 2000er-Jahre so begeistert hatte, längst nicht mehr da ist. Man hat das Gefühl, dass die Stadt inzwischen ‚erwachsen’ geworden ist und dadurch ihre Alleinstellungsmerkmale eingebüßt hat. Es ist viel verloren gegangen im Sinne eines Stadtlebens, das in unserer Wahrnehmung einst von einer Art Regellosigkeit geprägt war, von einer Sorglosigkeit, die wir als in Italien sozialisierte Menschen sehr charmant fanden.

Federico hat Berlin verlassen: Die Stadt sei erwachsen geworden.

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Es sind viele kulturelle Institutionen, Lokale und sonstige Orte verschwunden, die einzigartig waren. Und die, die geblieben sind, sind der sich immer breiter machenden Gentrifizierung ausgesetzt. Viele Straßen und Stadtteile wirken zunehmend austauschbar. Wenig inspirierende Luxus-Bauklötze im modernen Stil, die an Langweiligkeit kaum zu überbieten sind, stechen neben den wenigen schönen Altbauten wie Amalgamfüllungen hervor. Materiell fehlt uns nichts. Für uns sehen wir auf Dauer aber nicht mehr die Möglichkeit, in Berlin wirklich glücklich zu werden. Wir sind deswegen zwar nicht erbost, aber es bleibt ein bitterer Nachgeschmack.“ – Federico P.

Wo jeder sein kann, wer er wirklich ist

„Wir sind vor 5 Jahren von Berlin an den Bodensee gezogen und jetzt wieder zurückgekommen. Seit dem Immobilienhype während der Finanzkrise und der Start-Up-Bubble konnten wir uns in unserem Kiez nicht mehr wohlfühlen. Doch im Süden war alles davon potenziert noch viel ätzender: Geisterorte mit 75 Prozent Ferienwohnungen, asoziale Vermieter, die die Not der Studenten und Einkommensschwachen ausnutzen, jede Menge Eso-Spinner und vor allem ein Konformitätszwang ohne Ende. Ich sag nur: Narrenverein und ‚Feschtle’. Wir sind jetzt glücklich wieder hier zu sein. Da wo jeder sein kann, wer er wirklich ist.“ – Sascha F.

Eigentlich sind wir Berliner

„Ich bin zum Studium 1986 nach Berlin gekommen, habe bis 2012 in Berlin gelebt – und das gerne. Berlin ist Heimat. 2012 bin ich mit meiner Familie nach Wien gegangen und dort hängen geblieben. Seitdem erlebe ich, wie es auch gehen kann: Wien ist eine super verwaltete Stadt, es gibt nette Busfahrer, die besorgt nach hinten fragen, ob alles okay ist, wenn sie mal auf die Bremse steigen müssen. Viel Grün, etwas entschleunigter, eine Stunde Fahrt in jede Himmelsrichtung, und schon ist man in einem anderen Land. Seit 2017 pendle ich im Zweiwochen-Rhythmus zwischen Wien und Berlin – und habe den direkten Vergleich.

Eigentlich doch ein Berliner: Stefan Oszváth pendelt wieder.

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Wenn ich Urlaub von der provinziellen Österreicher Innenpolitik und der Korruption brauche, freue ich mich über ‚Weltstadt’-Flair in Berlin, das Coole, das Unfertige, das ewig Improvisierte. Hier sind Freunde, hier ist Familie, Berlin ist Heimat, Wien ist Zuhause, zunehmend. Mit hoher Lebensqualität. Eine Stadt ohne die andere – kaum vorstellbar. Meine drei Töchter sind in Berlin geboren, beim ersten Besuch nach dem Umzug fuhren wir mit dem Auto über den Stadtring – mit Wiener Kennzeichen. Meine jüngste Tochter malte im Auto ein Schild, das sie ins Fenster hängte: ‚Eigentlich sind wir Berliner’.“ – Stephan Ozsváth

Hört auf, Berlin madig zu machen!

„Vor über 50 Jahren habe ich hier in Berlin studiert – eine ereignisreiche und prägende Zeit. Danach habe ich berufsbedingt länger in mehreren Ländern West- und Osteuropas gelebt. Aber immer hatte ich einen Koffer in Berlin, den ich regelmäßig inspiziert und ganz bewusst hiergelassen habe. Klar, dass ich als Rentnerin unbedingt wieder in Berlin leben wollte – nunmehr seit 13 Jahren. Entgegen allen Verwaltungs-Bashings habe ich ausnahmslos gute Erfahrungen mit den Ämtern gemacht. Auch finde ich die Menschen hier nicht so rotzig und unfreundlich, wie es ihnen immer nachgesagt wird.

Ich genieße das Kulturangebot, die Internationalität, das quirlige Leben und die grünen Oasen dieser Stadt. Klar ärgere auch ich mich über manchen Dreck. Den mache ich weg – soweit es geht. Und manchen Rüpel fordere auf, etwas netter zu sein. Meistens mit Erfolg. Mich bringen keine zehn Pferde mehr weg aus Berlin. Wer gehen will: bitteschön. Aber hört auf, Berlin madig zu machen.“ – Gisela Morel-Tiemann

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