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Auf das Abstellgleis könnten einige öffentliche Kitas in Berlin geraten, wenn die Auslastung nicht mehr stimmt.

© dpa/Christoph Soeder

Update

Berlin droht unbefristeter Kita-Streik: Gewerkschaft und Senat suchen nach Lösungen

Verdi und GEW haben das angestrebte Votum erreicht. Doch kommt es nun auch wirklich zum Erzwingungsstreik? Erstmal beginnen Gespräche mit dem Senat.

Stand:

Der Weg zu einem unbefristeten Kita-Streik ist frei: Bei der Urabstimmung in dieser Woche haben sich 91,7 Prozent für den „Erzwingungsstreik“ ausgesprochen. Angepeilt waren mindestesn 75 Prozent. Das gab die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am Freitag bekannt. Am 30. September könne der Streik beginnen. Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ließ ihre Mitglieder abstimmen. Bei ihnen votierten 82 Prozent für den unbefristeten Streik.

Update zum Kita-Streik in Berlin:

Es wäre Berlins erster unbefristeter Kita-Streik seit 35 Jahren. Ziel der Gewerkschaften ist es, für die städtischen Kitas einen Tarifvertrag für bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln.

Der unbefristete Streik könne „wochenlang dauern“, falls es kein Entgegenkommen gebe, kündigte der Verdi-Landesbezirksleiter Benjamin Roscher am Freitag an. Verdi hatte im Vorfeld der Urabstimmung das Streikgeld erhöht, um Einkommenseinbußen zu verhindern und somit die Streikbereitschaft zu erhöhen.

Nach Bekanntgabe der Ergebnisse trafen sich Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch, Finanzsenator Stefan Evers (beide CDU) und Verdi-Vertreter zu einem Gespräch, das allerdings schon vorher verabredet worden war. Verdi-Sprecher Kalle Kunkel sagte im Anschluss, man habe sich für Mitte nächster Woche, also vor dem 30. September, zu „Verhandlungen“ verabredet. Diese könnten in eine ähnliche Richtung weisen wie an der bestreikten Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Dort geht es ebenfalls darum, unterhalb eines Tarifvertrages Entlastungen mit einer verbindlichen Vereinbarung zu erreichen.

28.000
Kinder werden bei den Eigenbetrieben betreut.

Günther-Wünsch nannte den Termin mit Verdi „konstruktiv“. Es werde „weitere Gespräche geben​ – ganz klar aber keine Verhandlungen“, schränkte sie die Ankündigung Kunkels ein, um den Eindruck zu vermeiden, das Vorhaben habe etwas mit Tarifverhandlungen zu tun. Zudem betonte sie, der Ausstand überschreite die „Belastungsgrenze“ der Familien.​ Ziel sei daher, „den Erzwingungsstreik ​abzuwenden“. Auf einen Weg wie an der MHH will sich der Senat bislang aber nicht festlegen lassen.

Rund 28.000 Kinder besuchen die 280 kommunalen Kitas, um die sich der Streit dreht. Die Beschäftigten wollen erreichen, dass weniger Kinder pro Erzieherkraft betreut werden müssen.

Neben der andauernden Belastung für die Familien mache ich mir große Sorgen um die wirtschaftliche Situation der Kita-Eigenbetriebe.

Katharina Günther-Wünsch (CDU), Senatorin für Jugend

„Die Gewerkschaft erweist sich selbst, ihren Mitgliedern und vor allem den Familien in unserer Stadt einen echten Bärendienst“, sagte Günther-Wünsch. Sie erinnerte auch an die wirtschaftlichen Folgen für die Eigenbetriebe: „Neben der andauernden Belastung für die Familien mache ich mir große Sorgen um die wirtschaftliche Situation der Kita-Eigenbetriebe“, sagte die Senatorin angesichts der geschrumpften Kinderzahl an den öffentlichen Kitas.

Wenn Verdi den eingeschlagenen Kurs fortsetze, drohe eine Situation, „in der es nicht nur weniger Kinder zu betreuen gibt, sondern gar keine mehr“. Wie berichtet, ist die Zahl der Kinder in den Eigenbetrieben mehr als sonst im Sommer gesunken.

Beschäftigte müssen mit Umsetzungen rechnen

Landeselternsprecher Guido Lange und die Betriebe verweisen darauf, dass Eltern ihre Kündigung mit den vergangenen Warnstreiks und mit dem angedrohten Erzwingungsstreik begründet hätten. Nur noch 18 Prozent der Berliner Kinder besuchen eine öffentliche Kita.

18
Prozent der Berliner Kinder besuchen eine öffentliche Kita.

Die Jugendverwaltung teilte auf Anfrage mit, dass sich die Personalüberhänge in den Kitas der Eigenbetriebe inzwischen auf rund 500 Vollzeitstellen erhöht hätten. Im Jugendausschuss des Abgeordnetenhauses machte Senatorin Günther-Wünsch am Donnerstag deutlich, dass die Beschäftigten mit Umsetzungen zu rechnen hätten, um die Überhänge abbauen zu können. Denn anders als bei den freien Trägern muss bei den Eigenbetrieben der Steuerzahler für die Millionendefizite aufkommen. Um diese Defizite einzudämmen, wären die Bezirke gezwungen, einzelne Kitas in weniger nachgefragten Regionen zu schließen, heißt es aus der Koalition.

Das stellt die Existenz der Eigenbetriebe insgesamt in Frage.

Alexander Freier-Winterwerb, Sprecher für Jugend, Kinder und Familien in der SPD-Fraktion

Reaktionen auf das Abstimmungsergebnis kamen am Freitag auch aus Politik, Wirtschaft und Elternschaft. „Wenn es zu einem unbefristeten Streik kommt, befürchte ich eine schnelle umfassende Abwanderung von Kindern und Eltern aus den Eigenbetrieben“, warnte Alexander Freier-Winterwerb, jugendpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Das stelle „die Existenz der Eigenbetriebe insgesamt infrage“.

Es sei nun an Senat und Gewerkschaften, einen unbefristeten Streik zu verhindern. Er wünsche sich, dass die Beteiligten sich neben der Forderung nach einem Entlastungstarifvertrag auch über Verbesserungen in allen Kitas Gedanken machen, sagte der SPD-Politiker mit Blick auf die 120.000 Plätze in freier Trägerschaft.

„Lösungen für alle Kitas“

„Uns geht es darum, dass unsere Kinder gut betreut werden“, sagte Robert Irmscher, Vater aus einer Kita der Eigenbetriebe am Freitag bei der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses. Marianne Burkert-Eulitz, die schulpolitische Sprecherin der Grünen, sieht denSenat „in der Verantwortung, dass Berlin funktioniert“. Günther-Wünsch müsse nun gemeinsam mit den Gewerkschaften „zügig Lösungen erarbeiten, die zu guten Arbeitsbedingungen in allen Kindertageseinrichtungen unserer Stadt führen“.

Der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Unternehmensverbände, Alexander Schirp, teilte mit, das Votum für einen unbefristeten Streik sei „eine schlechte Nachricht für die Berliner Wirtschaft“. Die Gewerkschaften wollten „einmal mehr ihre Interessen auf dem Rücken von Familien und Arbeitgebern durchsetzen“. Das sei „rücksichtslos“ und schade dem Wunsch Zehntausender Mütter und Väter, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Für die betroffenen Unternehmen sei es „unzumutbar und oft auch nicht machbar“, ihre Personalplanung „nach den Streikgelüsten der Gewerkschaftsmitglieder“ zu richten.

Warum Verdi nach Hannover blickt

Verdi hatte schon im Vorfeld der Urabstimmung Optimismus verbreitet, dass ihre Forderungen erfüllt werden könnten. Dabei verwies die Gewerkschaft, wie berichtet, bereits vor ein paar Tagen auf Hannover, wo sie jetzt mit der Landesregierung über Entlastungen für die Mitarbeiter der Medizinischen Hochschule spricht.

„In Hannover haben sich alle Parteien verständigt, rechtlich verbindliche Entlastungsregelungen zu finden. Wir sind nicht dogmatisch“, kommentierte Verdi-Sprecher Kalle Kunkel. Mit anderen Worte: Es muss kein Tarifvertrag sein.

Tatsächlich soll es in Hannover nach dem Vorbild Schleswig-Holsteins nicht um einen Extra-Tarifvertrag, aber um eine zusätzliche Vereinbarung gehen, die der Entlastung der Beschäftigten dient. Das Beispiel ist deshalb so attraktiv für Verdi, weil die MHH ebenso wie die Kita-Eigenbetriebe zum Bereich der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) gehört. Im Unterschied dazu geht es aber eben nicht um die Zahl der Pflegebetten, sondern um Kitagruppengrößen.

Bisher wurde noch nicht letztinstanzlich entschieden, ob beides überhaupt „tarifierbar“ ist. Um das zu klären, könnte das Land Berlin vor Gericht ziehen.

Was für den Entlastungs-Tarifvertrag spricht

Nicht nur Verdi, sondern auch die GEW versuchen seit etwa 2020, den Weg für neuartige zusätzliche Tarifverträge freizumachen. Verdi legte seinen Streik für einen Entlastungstarifvertrag in den Berliner Wahlkampf 2021, um Druck aufbauen – erfolgreich: Der Senat knickte letztlich ein, weil die Pflegebeschäftigten von Charité und Vivantes auf der Straße standen und massenhaft Operationen ausfielen. Die damaligen Spitzenkandidaten übertrumpften sich gegenseitig mit Solidaritätsadressen.

Die GEW war im Schulbereich bisher weniger erfolgreich: Der Streik der angestellten Lehrkräfte für kleinere Klassen dümpelt seit 2021 vor sich hin. Er könnte aber nun neuen Schwung bekommen: Die GEW-Tarifkommission der angestellten Lehrkräfte werde sich „in den nächsten Tagen intensiv beraten“, teilte GEW-Sprecher Markus Hanisch dem Tagesspiegel auf Anfrage mit. Die Gewerkschaft ist durch die Umstände des Rücktritts ihres Co-Vorsitzenden Tom Erdmann seit Monaten in Mitleidenschaft gezogen.

Die verbliebene GEW-Vorsitzende Martina Regulin betonte am Freitag, es gehe „nicht nur um Entlastung – es geht darum, die Arbeitsbedingungen in den Berliner Eigenbetrieben nachhaltig zu verbessern“.

Als Argumentation für die neuen Entlastungstarifverträge wird von Verdi und GEW angeführt:

  • die hohen Krankenstände der Beschäftigten in den Pflege-, Sozial- und Erziehungsberufen;
  • die hohe Teilzeitquote, die durch weniger Stress im Alltag gesenkt werden könne;
  • die hohe Fluktuation in diesen Berufsfeldern infolge der hohen Arbeitslast;
  • die erwartete bessere Förderung der Kinder in kleineren Kitagruppen und kleineren Klassen sowie die höhere Patientenzufriedenheit durch weniger gehetzte Pflegekräfte.

Was gegen den Entlastungstarifvertrag spricht

Anders als im Pflegebereich sieht es im Schul- und Kitabereich nicht danach aus, dass es zu einem Entlastungstarifvertrag kommt. Die Koalition hat bisher kein Zeichen gegeben, wonach sie bereit wären, deutschlandweit erstmalig einen solchen Vertrag für Kitabeschäftigte abzuschließen. Gegen einen solchen Schritt sprechen laut Senat mehrere Aspekte:

  • die Berliner Sparzwänge, denn die Verkleinerung von Kitagruppen ist personalintensiv und damit teuer;
  • der drohende Rauswurf aus der TdL;
  • die einseitige Besserstellung der öffentlichen Kitas gegenüber den freien Trägern;
  • der Mangel an Fachpersonal.

Zwar argumentieren Verdi und GEW, dass Berlin sich nur hinter der TdL verschanze, um Geld zu sparen. Dagegen spricht aber, dass auch die TdL sich ganz klar hinter Berlin gestellt hat. Denn tatsächlich könnte ein Vorpreschen Berlins die übrigen Kommunen viel Geld kosten: Wenn die TdL diesen Schritt einmal durchgehen ließe, hätten die anderen Gemeinden kein Argument mehr, sich nicht auch Verdi beugen zu müssen. Die Kosten für den Kitabereich liefen somit immer mehr aus dem Ruder.

Die Gehälter sind erheblich gestiegen

Schon jetzt ist der Kitabetrieb wesentlich teurer als noch vor zehn Jahren, denn die Beschäftigten haben hohe Einkommenszuwächse erreicht: In Berlin verdient eine Erzieherkraft ab Februar 2025 über 40 Prozent mehr als noch vor sieben Jahren.

Die inzwischen hohen Gehälter mitsamt Hauptstadtzulage beschleunigen allerdings aktuell die Finanzmisere der kommunalen Eigenbetriebe in Berlin. Wie berichtet, hat der Berliner Geburtenrückgang dazu geführt, dass regional Tausende Kitaplätze frei sind. In diesen Regionen haben es Eltern leichter, zu freien Trägern zu wechseln, um den Streiks der landeseigenen Kitas zu entgehen.

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