zum Hauptinhalt
Eine Frau hält ein Kleinkind in einer gelben Winterjacke an der Hand.

© Getty Images

Alltag einer Krisenpflegemutter: „Wenn sie sprechen können, nennen sie mich Mama“

Alessandra Cercola Salatino ist Krisenpflegemutter. Zu ihr kommen Kinder, die vom Jugendamt in Obhut genommen werden. Wie es ist, Kindern ein Zuhause auf Zeit zu geben.

Stand:

Das Kinderbett und der Wickeltisch stehen in dem kleinen, hellgrünen Zimmer bereit. Der Kleiderschrank ist mit Stramplern und Jäckchen in den Babygrößen 62-68 gefüllt. Mehr Kleidung lagert im Keller. In der hellen Berliner Dachgeschosswohnung von Alessandra Cercola Salatino ist alles für einen Säugling vorbereitet. Nächste Woche erwartet die 67-Jährige ihr nächstes Baby – ihr fünfzehntes Krisenpflegekind.

Seit 2015 ist Alessandra Cercola Salatino Krisenpflegemutter. Gemeinsam mit ihrem Mann nimmt sie Kinder auf, die vom Jugendamt aus akuten Gefahrensituationen entfernt und in Obhut genommen worden sind. Diese Aufgabe mache sie glücklich, sagt Alessandra Cercola Salatino, weil die Kinder bei ihr „eine echte Chance bekommen“.

Die leiblichen Eltern der Kinder, die das Paar aufnimmt, sind häufig psychisch krank, alkohol- oder drogenabhängig. Die Kinder wurden vernachlässigt oder haben häusliche Gewalt erlebt. Cercola Salatino bietet ihnen ein temporäres Zuhause, bis sie in eine langfristige Unterbringung ziehen können.

Die Kinder müssen zunächst stabilisiert werden

Wie geht man als temporäre Pflegemutter auf Kinder zu, die nicht nur die Trennung von den Eltern, sondern teilweise auch traumatische Erlebnisse verarbeiten müssen? Anfangs sei es ihre Aufgabe, „das Kind zu stabilisieren, ihm Trost zu spenden und es so weit wie möglich in die Familiensituation einzubeziehen, sodass es sich zu Hause fühlt“, sagt Cercola Salatino. Babys bade sie oft gleich nach dem Ankommen. „Die Badewanne ist ein beruhigender Ort.“

Krisenpflegemutter Alessandra Cercola Salatino im vorbereiteten Kinderzimmer.

© Saskia Kabelitz

Als Cercola Salatino früher noch etwas ältere Kinder aufnahm, sprach sie viel mit ihnen, versuchte, vorsichtig die Situation zu erklären. „Du bist jetzt hier zu Gast, wir spielen zusammen für eine Zeit. Deine Mama kann im Moment nicht auf dich aufpassen, und deswegen bist du hier. Wir passen auf dich auf.“ Viel Sicherheit gebe den Kindern auch Essen, das sie sich selbst aussuchen dürfen, erzählt die Pflegemutter. „Wenn sie in der ersten Zeit nur Salami essen wollen, dann kriegen sie eben nur Salami.“ Dass sie mit einem Kind nicht warmgeworden ist, sei noch nie vorgekommen.

Die Familie nimmt immer jeweils nur ein Krisenpflegekind auf. Anfangs waren es Kinder zwischen zwei und sechs Jahren. Deswegen habe das Ehepaar kistenweise Kinderkleidung in jeglichen Größen im Keller. So viele, dass sie einen Laden aufmachen könnten, ergänzt Cercola Salatinos Ehemann, woraufhin seine Frau lacht. Inzwischen kämen allerdings hauptsächlich Babys, erzählt Cercola Salatino. „Ich bin mit 67 Jahren nicht mehr so fit, dass ich noch mit einem Kleinkind auf dem Spielplatz klettern kann.“

Zur Krisenpflege ist das italienischstämmige Paar, das seit mehr als 40 Jahren in Berlin lebt, über Umwege gekommen. 1998 adoptierten die beiden ihren ältesten Sohn. Ihren eigentlichen Beruf als Tanzpädagogin gab Cercola Salatino damals zugunsten des Adoptivsohns auf. Ein paar Jahre später kam ihre Tochter zu ihnen – als Dauerpflegekind, denn eine zweite Adoption war zu diesem Zeitpunkt aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Eltern unwahrscheinlich geworden.

Als ihr Sohn 2014 ausgezogen war, fand die Familie es jedoch „komisch zu dritt“. „Das war einfach zu wenig“, sagt Cercola Salatino lachend. Damals kannte sie die Option der Krisenpflege bereits. Anfangs zweifelten sie, ihr Mann und die 12-jährige Tochter, ob sie es hinkriegen würden, liebgewonnene Kinder wieder abzugeben. Aber dann motivierte sie der Gedanke, dass sie diesen Kindern schließlich anders als viele stationäre Einrichtungen eine familiäre Struktur bieten können.

Ein temporäres Zuhause

Cercola Salatino besuchte damals den Infoabend eines freien Trägers und nahm an einem Eignungsgespräch und mehreren Seminaren teil. „Innerhalb von neun Monaten hatten wir unser erstes Krisenpflegekind“, erzählt sie und lächelt. Bis heute folgten 14 weitere.

Anders als bei der Dauerpflege sollen Krisenpflegekinder eigentlich nur maximal sechs Monate bei den Familien wohnen. Die Realität sehe aber oft anders aus, erzählt die Pflegemutter ernst. Manchmal dauere es lange, bis eine passende Lösung für die Kinder gefunden werden kann. Außerdem gebe es zu wenige Dauerpflegefamilien in Berlin.

Deshalb kommt es vor, dass die Kinder bis zu einem Jahr bleiben. Ideal sei das nicht: „Eine Bindung wird aufgebaut, die Kinder wollen nicht mehr gehen. Für uns ist es auch wirklich schwierig, sie wieder abzugeben und für die leiblichen Eltern ist es auch eine Katastrophe“, sagt Alessandra Cercola Salatino ernst.

Für die Betreuung rund um die Uhr bekamen Pflegeeltern in fast allen Berliner Bezirken bis vor kurzem lediglich 300 Euro im Monat. Im September 2024 wurde das sogenannte Erziehungsgeld dann auf 1470 Euro erhöht. Auch der Sachaufwand für Miete, Lebensmittel, Kleidung und Spielzeug wurde von 485 Euro auf 603 Euro erhöht.

Trost und Sicherheit spenden

Mit jedem neuen Kind steht für die Pflegemutter eine Menge Papierkram an, oft müssen auch versäumte Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen nachgeholt werden. Sie habe inzwischen ein Netzwerk von Kinderärzten, Hebammen und Psychologen aufgebaut, die sie auch aufnehmen, „wenn wir keine Krankenkassenkarte für die Kinder haben.“

Wenn keine akute Gefahr für die Kinder besteht, organisiert das Jugendamt rasch regelmäßige Treffen mit den leiblichen Eltern. Anfangs sei es für die oft schwierig, die neuen Pflegeeltern zu akzeptieren, erzählt Cercola Salatino voller Verständnis. „Manchmal sind sie richtig irritiert und verängstigt.“

Mit der Zeit entstehe aber oft eine gute Beziehung. Für sie selbst, ihren Mann und ihre Tochter gehöre jedes neue Kind zur Familie, sagt die Pflegemutter. Das spürten auch die Kinder: „Wenn sie sprechen können, nennen sie mich Mama.“

Der Abschied ist schwer

Nach ihrer Zeit bei Cercola Salatino kommen die Kinder entweder zurück zu ihren leiblichen Eltern oder zu anderen Familienangehörigen, in eine Dauerpflegefamilie oder in eine stationäre Einrichtung. Sobald entschieden ist, wohin es geht, beginnt die sogenannte Anbahnung. In dieser Phase werden die Kinder vorsichtig an die neue Situation gewöhnt. Die neuen — oder alten — Bezugspersonen verbringen immer länger Zeit mit den Kindern. Während die Pflegemutter eine dreimonatige Anbahnung ideal findet, sieht das Jugendamt oft nur vier Wochen vor. Für manche Kinder sei das okay, „für andere gar nicht“, so die Pflegemutter.

Wir haben ganz viele Enkelkinder sozusagen.

Alessandra Cercola Salatino, Krisenpflegemutter

Auch nach zehn Jahren und zahlreichen Abschieden fällt ihr die Trennung von jedem Kind schwer. Insbesondere nach längeren Aufenthalten: „Wenn Kinder hier länger als ein Jahr waren, dann ist es wirklich eine Herausforderung, sie gehen zu lassen.“ Wie schwer ein Abschied fällt, hänge auch davon ab, wohin es die Kinder verschlägt. Manchmal kämen sie zu leiblichen Eltern zurück, „bei denen man nicht das Gefühl hat, dass die Eltern die Kinder schon wieder gut betreuen können. Manchmal entscheiden die Richter sowas“.

Solche Situationen zehren an Cercola Salatino: „Es bleibt das Gefühl, dass man es nicht geschafft hat, entweder das Kind gut vorzubereiten. Oder nicht genug gekämpft hat, damit es noch länger bleibt.“ Manchmal brauche sie dann Monate, bevor sie ein neues Kind aufnehmen kann.

Der Kontakt bleibt bestehen

Wenn die Kinder hingegen zu Dauerpflegefamilien kommen oder Cercola Salatino merkt, dass sich die leiblichen Eltern tatsächlich verändert haben, sei es leichter: „Es ist natürlich immer schwierig, aber dann können wir uns wieder erholen.“

Mit fast allen ehemaligen Kindern habe sie noch immer ein enges Verhältnis. Auch mit den neuen Pflegeeltern oder den leiblichen Eltern entwickeln sich meist gute Beziehungen, eine leibliche Mutter etwa bitte sie noch immer regelmäßig um Rat. Oft werden sie und ihre Familie zu Geburtstagen eingeladen. „Wir haben ganz viele Enkelkinder sozusagen“, erzählt die Pflegemutter lachend.

Cercola Salatino und ihr Mann sind inzwischen im Rentenalter. Sie besitzen ein Haus in Italien: „Wir könnten aufhören und gehen“. Aber sie sieht, „was das für die Kinder bedeutet“. Deswegen sei es ihr ein Bedürfnis, ihre Arbeit fortzuführen, solange sie die Kraft hat.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })