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Die Rentnerin Hannelore Janke möchte nie wieder aufs Amt gehen müssen, um Grundsicherung zu beantragen – zu entwürdigend empfand sie die Erfahrung damals.

© Mike Wolff

Nach 35 Berufsjahren – 300 Euro monatlich zum Leben: Altersarmut in Berlin

Die 68-jährige Hannelore Janke muss mit wenig Geld auskommen. Wie lebt sie? Ein Besuch.

Sie hat ihre Nägel rot lackiert. Der Schal, die Weste, alle im selben Rot-Ton. Der Eindruck passt zur Wohnung, zum Schrank mit den Glastüren, in dem feines Geschirr steht und schön geschliffene Gläser, zum edlen Buffet, über dem an der Wand zwei geschwungene Kerzenständer hängen und dem Beistelltisch, auf dem eine Spitzendecke liegt. Die Gardinen an den Fenstern sind blütenweiß. Eine Atmosphäre, die an die Biedermeier-Zeit erinnert, an alte Filme, es hat etwas Hoheitsvolles.

Hannelore Janke sitzt in ihrer Wohnung und sagt: „Ich lasse nie mehr die Hosen runter, vorher esse ich tagelang nichts mehr.“ Nie mehr geht sie aufs Amt, nie mehr wird sie staatliche Hilfe beantragen. Sie hat das mal gemacht, drei Jahre lang, Anträge auf Grundsicherung. „Die fragen noch, was der Ehering wert ist“, sagt sie.

Ein Witz? Niemand hat das wirklich gefragt, „aber so habe ich mich gefühlt“. Zum Leben hat Hannelore Janke, 68 Jahre alt, 300 Euro im Monat. Sie, die jetzt bebt vor Zorn, sitzt an ihrem Tisch, in ihrer großen Wohnung im Zentrum der Stadt. Sie ist zu groß für sie, seit der Mann gestorben ist.

Sie will raus, umziehen, in eine kleinere Wohnung – was fast aussichtslos ist. Ein Fahrstuhl wäre gut, weil sie orthopädische Schuhe trägt, seit ein Zeh amputiert ist, U-Bahn-Nähe auch, weil sie oft zum Arzt muss und in ihrer Krankenakte Diabetes, Herz- und Kreislaufprobleme stehen, die Lunge ramponiert ist und die Nieren nicht mehr richtig arbeiten. Eigentlich ist ihr die Wohnung zu teuer: 650 Euro warm, dazu die Betriebskosten.

Im Monat erhält sie zwar rund 1500 Euro, ein Mix aus eigener Rente, Witwenrente und Caritas-Hilfe, aber 316 Euro gehen gleich weg für die Haushaltshilfe der Caritas, dazu kommen Strom und Versicherungen. 50 Euro im Monat legt sie zurück, falls sie Betriebskosten nachzahlen müsste.

Altersarmut trotz 35 Berufsjahren

Sie könnte einen Mietzuschuss beantragen, aber das möchte sie nicht. Also arrangiert sich Hannelore Janke mit dem Leben am Rande der Armut. Mehr bleibt ihr nicht nach 35 Jahren als Altenpflegerin. Ihr Mann war Fleischer, musste aber noch Unterhalt für seine erste Frau bezahlen. Dann wurde er krank und arbeitsunfähig, zwischenzeitlich mussten sie Grundsicherung beantragen.

Hannelore Janke ist eine von den Menschen im Rentenalter, die kaum über die Runden kommen. Einmal im Monat geht sie ins Kino, zehn Euro, „das ist schon Luxus“. Ansonsten leistet sie sich nach dem Arztbesuch einen Kaffee und starrt sehnsüchtig in die Auslagen der Geschäfte, wenn sie wieder nach Hause geht.

Die 68-Jähirge hat 300 Euro im Monat zum Leben. (Symbolbild)
Die 68-Jähirge hat 300 Euro im Monat zum Leben. (Symbolbild)

© Marijan Murat/dpa

Der Besuch beim Frisör ist nicht drin, eine größere Anschaffung erst recht nicht. Kurz vor seinem Tod hatte ihr Mann seinen Siegelring bei einem Juwelier in Zahlung gegeben. 415 Euro steckte er ein, 350 gab er gleich wieder für einen Kühlschrank aus. Das war die letzte große Anschaffung, die Hannelore Janke erlebt hat. Die Kaffeemaschine ist kaputt, sie hat kein Geld für eine neue.

Viele Tausend Menschen im Rentenalter leben in Armut. Vielen sieht man es nicht an, sie sind gefangen in ihrem Schamgefühl. Sie wollen ihre Not nicht zeigen, deshalb beantragen sie keine staatliche Hilfe.

20 Prozent der Hilfesuchenden sind über 65

An der Tür von Regina Stark klebt eine Postkarte, auf der ein Dackel an einer Leine einen VW-Käfer zieht. In einer Sprachblase erklärt der Hund: „Ich versuche alles, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen.“

Regina Stark lacht, wenn sie an das Motiv denkt, es hängt an ihrem Büro im Prenzlauer Berg. Sie versucht auch alles, was in ihrer Macht steht. Aber ihre Klienten sind keine Autobesitzer, sondern Menschen wie Hannelore Janke. Regina Stark ist 61, Sozialpädagogin, sie hilft in der allgemeinen Sozialberatung der Caritas jenen Menschen, die vom sozialen Netz aufgefangen werden müssen. 3000 bis 4000 Kontakte hat sie im Jahr, mit 700 bis 800 Leuten persönlich, „20 Prozent davon sind älter als 65 Jahre“.

Berlin, diese Stadt mit all ihren menschlichen Schattierungen, sie findet sich symbolisch in Regina Starks Büro wieder. Es gibt betagte Männer und Frauen, die so wenig verdient haben, dass ihre Rente gering ist, aber auch Rentner, die Schulden ihres jeweiligen Partners abzahlen, und Menschen, die selbstverschuldet in die Armutsfalle geraten sind. „Aber auch die verdienen Hilfe“, sagt Regina Starke.

Vor allem die Mietkosten sind für viele zu hoch

Die größten Probleme stellen Miete, Strom und Betriebskostennachzahlungen dar. Aber viele scheitern auch an den Kosten für Medikamente, für Fahrten, für die Fernsehgebühren, für den Besuch beim Frisör. Eine neue Brille? Für die meisten viel zu teuer. Natürlich gäbe es staatliche Hilfe, Zuschüsse, Unterstützung – gut gemeinte Versorgung aber trifft auf Menschen, die diese Hilfe als entwürdigend wahrnehmen.

Sie haben Kinder groß gezogen, ihr Leben lang gearbeitet, sie haben Stolz und Würde, sie wollen sich nicht im Alter in der Rolle des Bittstellers wiederfinden. Stiftungen sind ein Teil der Lösung. 60 stehen Regina Stark zur Verfügung, es sind Organisationen, die ihr Geld für Bedürftige bereitstellen.

Sie haben ihr Leben lang gearbeitet, sie haben Stolz und Würde, sie wollen sich nicht im Alter in der Rolle des Bittstellers wiederfinden. (Symbolbild)
Sie haben ihr Leben lang gearbeitet, sie haben Stolz und Würde, sie wollen sich nicht im Alter in der Rolle des Bittstellers wiederfinden. (Symbolbild)

© dpa

Diese Quellen zapft die Sozialpädagogin regelmäßig an. Sie bittet um Geld für Menschen, die knapp über der Grundsicherung liegen. Für einen 85-jährigen ehemaligen Architekten mit kaputtem Knie, der seine privaten Krankenkassenbeiträge nicht mehr bezahlen kann und nicht mehr ins Krankenhaus oder zum Arzt geht. Eine Stiftung finanziert ihm ab und zu Medikamente. Einer der Fälle, die Regina Starke als selbstverschuldet einstuft. Der Architekt, in der DDR sozialisiert, wollte nach der Wende unbedingt noch in die private Krankenkasse. Mit 55 Jahren.

Vor allem bei Menschen aus der DDR reicht die Rente oft nicht

Es tauchen ohnehin viele Menschen aus der DDR bei ihr auf, Menschen, die über Nacht in ein völlig neues System katapultiert wurden, keinen angemessenen Job fanden, mit Minijobs ihr Leben fristeten und irgendwann aufgaben. Sie hat aber auch viele, die im Westen groß geworden sind, die als Alkoholiker den Anschluss verloren und jetzt nicht mehr weiter wissen. Der Weg zur Tafel gehört für sie zum Alltag.

Viele landen aber auch bei Ralf Bornemann. Dann suchen sie Hilfe, weil Schulden sie erdrücken. Bornemann ist Geschäftsführer der „Berliner Schuldenhilfe“. Er hat ähnliche Erfahrungen wie Regina Starke. „Der Trend geht zu größeren Zahlen bei älteren Menschen“, sagt er.

Jährlich registriert er 120 bis 150 neue Mandanten, „aus allen Nationen und Schichten“. Von diesen 150 Fällen betreffen rund 20 Prozent ältere Menschen ab 65 Jahre. „Früher war die Zahl geringer“, sagt Bornemann. Auch er hört die Klagen über Strom- und Betriebskosten, Krankenversicherungsbeiträge, Mietschulden.

Schweigen aus Scham

Einmal rief bei ihm eine verzweifelte Frau an. Ihr Vater, früher selbstständig, erstickte fast in Schulden, hatte aber aus Scham nie seinen Kindern etwas davon gesagt. „Zu mir kommen viele erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist“, sagt Bornemann. Dann stößt er auf nicht geöffnete Briefe, auf Nachrichten, die keiner hören wollte, auf langes Desinteresse aus Selbstschutz.

Manche Schicksale sind besonders bewegend. Bornemann kümmert sich um eine ältere Frau, die in ihrer Einsamkeit einen Weinvertreter zu sich einlud. Sie wollte keinen Wein, sie wollte bloß jemanden zum Reden. Dass sie bei diesem Gespräch auch noch Wein für 400 Euro bestellte, war ihr entweder nicht bewusst oder egal. Das Geld dafür hat sie nicht. Bornemann versucht derzeit, die Bestellung rückgängig zu machen.

Hannelore Janke würde nie Wein für 400 Euro bestellen. Sie träumt von einem Wellnessurlaub an der Ostsee, mit Salatbuffet und frisch gefangenem Fisch, von einer Massage und entspannten Tagen. Ein Lottogewinn würde sie glatt überfordern. „Ich wüsste gar nicht, was ich mit dem vielen Geld machen würde.“ Sie hat nur einen großen Wunsch: „Ich wünsche mir, dass alle meine Krankheiten wegfliegen.“

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