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Europaweit am größten war die Schultheiss-Brauerei an der Schönhauser Allee – die heutige Kulturbrauerei.

© Sven Darmer

Backstein, Bike und Braukultur: Diese Fahrradtour bietet Einblicke in Berlins Industriekultur

Biertrinken mal anders: Auf einer neuen Fahrradtour kann man Eisenbahnen oder Elektroindustrie bestaunen. Und auch das ein oder andere Pils genießen.

Corona-Tests gibt es gerade an jeder Ecke. Aber an der Wilhelmstraße 43 wird der Abstrich zum besonderen Erlebnis: Hier empfängt einen ein imposanter Backsteinbau, der ringförmig von unten nach oben wächst – das älteste Bauwerk der deutschen Elektrizitätswirtschaft.

Zwischen 1924 und 1928 nach Plänen des Architekten Hans Heinrich Müller erbaut, diente es dazu, den hochgespannten Strom aus den Fernleitungen auf niedrige Voltzahlen herunterzuspannen. Nach der Wende zog hier mit dem E-Werk einer der legendären Gründungsorte der Techno-Bewegung ein, inzwischen befindet sich dort eine gleichnamige Eventlocation – und die ist nun zu einem temporären Corona-Testzentrum geworden.

Eine Geschichte von Umwidmungen, wie sie sich von vielen Industriebauten in Berlin erzählen lässt. „Das Besondere an Berlin ist ja, dass hier die Industrie- und industrienahen Gebäude so eng mit den Wohngebieten verwoben sind“, erklärt Joseph Hoppe, Leiter des Berliner Zentrums Industriekultur. Mit dem Aufkommen der Elektroindustrie um 1880 wuchs das zuvor relativ kleine Berlin binnen kurzer Zeit zur modernsten europäischen Metropole heran und musste sich mit all den Industrie-, Versorgungs-, Energiestrukturen immer wieder neu erfinden.

Wie sehr die einstigen Industriebauten bis heute das Stadtbild prägen, sollen thematische Fahrradrouten vermitteln, die ein Team aus Industriearchäologen, Fahrradexperten, Verkehrs- und Stadtplaner:innen entwickelt hat. „Wir wollen, dass die Menschen die Metropole neu entdecken und ihren Blick für die Industriegeschichte schärfen“, sagt Projektkoordinatorin Antje Boshold.

Mal geht es bei den Touren um Innovation und Eleganz rund um Charlottenburg, mal um Eisenbahnen und Landebahnen, ein anderes Mal um Produktion und Munition in Siemensstadt oder Wasser und Strom in Oberschöneweide. Bis Ende des Jahres sollen alle Routen kostenlos aus dem Internet herunterzuladen und möglichst auch in der Stadt ausgeschildert sein.

Motto: „Warmes Licht und kühles Bier“

Mit der ersten unter dem Motto „Warmes Licht und kühles Bier“ kann man schon jetzt losradeln. Nur sollte man auf dem Weg durch Tiergarten, Kreuzberg, Wedding, Prenzlauer Berg und Mitte nicht nur das Bier im Kopf haben. Erst nach einer Durststrecke von zwei oder drei Stunden werden die Ikonen der Braukultur erreicht, wo dann auch der eine oder andere Biergarten zum kühlen Pils einlädt.

Davor steht das warme Licht im Vordergrund, zum Beispiel am Anhalter Bahnhof. Heute steht vom einstigen Bahnhof nur noch der Portikus einsam und verlassen am Askanischen Platz. Ganz anders, als die „Mutterhöhle der Eisenbahn“, wie Walter Benjamin ihn nannte, um 1880 seinen Betrieb aufnahm und die urlaubsreifen Berliner scharenweise den Riviera Express bestiegen.

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Damals empfing sie eine große Halle, die so hell erleuchtet war, dass man Zeitzeugen zufolge feinste Druckschrift entziffern konnte. „Möglich wurde das durch die Bogenlampen von Siemens“, sagt Experte Hoppe, der 36 Jahre am Technikmuseum gewirkt hat. „Schräg gegenüber vom Bahnhof, wo heute der Tagesspiegel seinen Sitz hat, hatte die Firma Siemens & Halske 1847 als kleine Telegraphenbauanstalt angefangen und entwickelte sich von dort aus zum weltweit agierenden Konzern.“

An grünen Ufern mit Blick auf die neuen Wohnquartiere am Hauptbahnhof führt der Weg weiter zur Kieler Brücke, wo das Umspannwerk Scharnhorst steht. Wieder ein Gebäude von Hans Heinrich Müller: 1927 im Stil des Backsteinexpressionismus mit vorspringenden Transformatorenkammern erbaut, wirkt es tatsächlich wie eine Kathedrale der Elektrizität. Dabei fällt noch etwas ins Auge: „Sehen Sie die Lichtwarte oben auf dem Dach?“, fragt Antje Boshold. „Von der kleinen Glaskuppel aus entschied ein Mitarbeiter bis in die 1940er Jahre hinein, wann in Berlin die Straßenbeleuchtung eingeschaltet wurde.“

Inzwischen ist es nicht mehr weit zu den geschichtsträchtigen AEG-Gebäuden im Wedding, die sich unter ruhige Wohnviertel an der Sebastiankirche mischen. Die Bedeutung der „Allgemeinen Electricitäts Gesellschaft“ für die Stadtentwicklung lässt sich am Pathos der Architektur ablesen.

Damals wurden nicht einfach irgendwelche Zweckbauten hochgezogen. Vielmehr gleichen die Werkshallen Tempeln, die dem industriellen Fortschrittsglauben huldigen. Ob es die Apparatefabrik von 1890 im Stil des Historismus ist, in der einst Haushaltsgeräte hergestellt wurden, oder die Fabrikstadt am Humboldthain mit riesiger Turbinenhalle im Stil der Neuen Sachlichkeit – auch hundert Jahre später bewähren sie sich als begehrte Behausungen für Institute, Gründerzentren oder Medienunternehmen.

Was man nicht sieht: Beide Fabrikationsstätten verbindet ein 295 Meter langer Tunnel, in dem früher Arbeiter und Material hin- und hertransportiert wurden. Bei Führungen des Vereins Berliner Unterwelten kann man sich davon überzeugen, dass hier tatsächlich Deutschlands erste U-Bahn am Start war.

Die vielen Arbeiter hatten Durst

Nach einem weiteren eindrucksvollen Umspannwerk an der Kopenhagener Straße – dieses Mal in Form einer Burg – bewegt sich die Route schließlich in Richtung kühles Bier. Was das mit den Elektrizitätswerken zu tun hat? Die vielen Arbeiter hatten Durst. Und um den zu stillen, wurde in großem Stil gebraut.

Allein in Prenzlauer Berg gab es um 1900 mehr als ein Dutzend Brauereien. „Sie machten sich die Hanglage zunutze, um in den darunterliegenden Kellergewölben das Bier zu kühlen“, sagt Stadtplanerin Boshold. Eine der ersten war die Brauerei Goterjahn in der Milastraße, deren Malzbierspezialitäten gleich im daneben liegenden Festsaal mit Kegelbahn für 1500 Personen ausgeschenkt wurden. Das brasilianische Restaurant, das dort heute mit Gegrilltem lockt, wäre wohl schon mit einem Bruchteil der Gäste zufrieden.

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Europaweit am größten war allerdings die Schultheiss-Brauerei an der Schönhauser Allee – die heutige Kulturbrauerei. Ab 1878 nach Plänen des Architekten Franz Heinrich Schwechten entstanden, gehörten neben dem Sudhaus, einer Lagerhalle und Böttcherei auch Pferdeställe, ein Kinderheim und eine Restauration zum Gelände. 1919 schluckte Schultheiss auch noch die Konkurrenz, die der bayerische Braumeister Joseph Pfeffer bereits 1844 begründet hatte.

Heute ist der Pfefferberg ein kleines Viertel für sich mit Kunst, Kultur – und inzwischen auch wieder selbstgebrautem Bier aus der Schankhalle. Spätestens jetzt wird es Zeit für ein kaltgehopftes Sommermärchen oder eine dunkle Berliner Schnauze, bei der man die vielen Eindrücke sacken lassen kann.

„Wir haben die Route bewusst auf bereits bestehenden, bewährten Fahrradrouten angelegt“, sagt Boshold. Mit dabei waren Tourismusfachleute, die wissen, was bei Besuchern gut ankommt. Oder auch bei Berlinern. „Denn die haben ja in Corona-Zeiten angefangen, ihre Stadt neu zu entdecken“, weiß Christian Tänzler von Visit Berlin aus der Erfahrung des letzten Jahres. „Viele haben die Vorstellung, Industrie ist dunkel und schmutzig. Die Tour lässt sie in einem anderen Licht erscheinen. Vielleicht eine Art spätes Renommee.“

Die Route „Warmes Licht und kühles Bier“ und weitere Informationen sind auf der Website des Berliner Zentrum Industriekultur unter industriekultur.berlin zu finden. Die etwa 25 Kilometer lange Strecke lässt sich in anderthalb Stunden bewältigen, doch eignet sie sich mit ihren 15 Stationen auch für einen Tagesausflug.

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